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Der Pate von Bombay

Titel: Der Pate von Bombay Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vikram Chandra
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die Rationalität des Alltags als das enge Gefängnis erkennen, das sie ist. Tretet aus ihr hinaus in die grenzenlose Weite. Dort wartet die Realität auf euch.«
    Ich für mein Teil wartete geduldig auf ihn, nachdem er seinen Vortrag beendet hatte. Wie üblich standen seine Anhänger Schlange, um mit ihm zu sprechen. Ich saß auf einem Stuhl in der sich leerenden Halle, während die Sadhus die Deutschen einen nach dem anderen in einen Privatraum an der Seite einließen. Ich hatte keine Sorge, daß die Audienzen beendet werden könnten, bevor ich an die Reihe kam, denn Guru-ji wußte ja, daß ich kommen würde. Und so saß ich zufrieden da und schaute zu, wie die Firangis lächelnd und verwandelt von ihrem persönlichen Darshan kamen.
    »Sie sind Inder?«
    Es war eine Deutsche. Sie trug einen tiefroten Sari und hatte das Haar mit einem Juda 300 hinten am Kopf festgesteckt, hatte eine Mangalsutra um den Hals und Sindur im Haar. Sie war jung, vielleicht Mitte Zwanzig, aber sie sah aus wie eine traditionelle indische Mutter vor dreißig Jahren, noch dazu eine aus einem kleinen Dorf. »Ja«, sagte ich.
    »Woher?« fragte sie. Ihr Englisch klang hart und klar. Ich kannte diesen Akzent von den Stränden auf Phuket.
    »Aus - aus Nashik«, antwortete ich.
    »Da war ich nie«, sagte sie. »Aber Nagpur, kennen Sie Nagpur?«
    Ich nickte.
    »Da hat Guru-ji mich zur Ehefrau gemacht und mir einen neuen Namen gegeben.«
    »Sie zur Ehefrau gemacht? Guru-ji?«
    »Nicht zu seiner. Zu der von Sukumar, meinem Mann.«
    »Sukumar ist Inder?«
    »Nein, auch Deutscher. Ich bin Guru-jis Schülerin geworden, nachdem ich ihn kennengelernt habe. Und dann hat uns Guru-ji zu Mann und Frau gemacht.«
    »Und Ihnen einen neuen Namen gegeben.«
    »Ich bin Sita.«
    »Ein guter Name.«
    »Guru-ji meint, es ist ein hohes Ideal.«
    »Was?«
    Sie deutete gen Himmel. »Sita ist eine gute Frau.«
    Die Sita vor mir hatte leuchtend blaue Augen und ein strahlendes, fröhliches Gesicht. Ich lächelte sie an. »Sita war die beste aller Frauen.« Einer der Sadhus winkte mir zu. Ich war an der Reihe. »Tschüs«, sagte ich zu Sita.
    »Namaste«, antwortete sie mit elegant verschränkten Händen und einer tiefen Verbeugung. »Es ist immer schön, jemanden aus der Heimat zu treffen.«
    Ich stand auf und mußte plötzlich gegen Schwindel ankämpfen. Ja, ich war müde, ich war innerhalb kurzer Zeit zuviel gereist. Ich stellte mich vor die grüne Tür des Privatraums, von zwei Sadhus flankiert, zwei Firangis mit buschigem braunen Bart. Sie waren beide ruhig und schweigsam. Dann ging die Tür auf.
    Guru-ji saß auf einer Gadda neben dem Kamin, sein Haar ein silberner Heiligenschein. Die Sessel und Sofas - es war wohl ein Konferenzzimmer - waren zur Seite gerückt worden, um den freien Raum zu schaffen, den er immer gern um sich hatte. Er betrachtete mich, während ich auf ihn zukam. Ich kniete vor ihm nieder, berührte mit der Stirn den Boden, umgriff seine Füße. Er legte mir die rechte Hand auf den Kopf und sagte: »Jite raho, Beta.« Er faßte mich an den Schultern und zog mich hoch.
    Ich blieb stumm. Ich hätte etwas sagen, ihm für seinen Segen danken sollen, doch ich hielt mich zurück.
    »Wie heißt du, Beta?«
    Ich hatte dieses Schweigen meinerseits nicht geplant, hatte nicht vorgehabt, Guru-ji auf die Probe zu stellen. Aber plötzlich wollte ich, daß er mich erkannte. Kein Mann, keine Frau hatte die Tarnung meines neuen Gesichts durchschaut. Aber Guru-ji kannte meine Seele, er kannte selbst das kleine, harte, schlackeartige Bruchstück in meinem Innern, das ich nie jemand anderen hatte sehen lassen. Er kannte die Weichheit, die Sehnsucht unter der Schwärze. Jetzt schwieg er erwartungsvoll.
    »Bist du stumm?« fragte er dann. »Kannst du nicht sprechen?«
    Ein Lächeln glitt über mein Gesicht. Ich benahm mich wirklich kindisch, aber daß er mich für stumm hielt, amüsierte mich. Und so kniete ich vor ihm und lächelte.
    »Ganesh?« fragte er.
    Ich war verblüfft. Ich hatte mir gewünscht, daß er mich erkennen möge, doch ich hatte nicht damit gerechnet. Es war einfach eine Sehnsucht gewesen, die in meinem tiefsten Innern wurzelte. Es gibt viele Begierden, die dicht unter der Oberfläche sitzen, und viele von diesen hatte ich mir erfüllt: Macht, Geld, Frauen. Doch es gibt auch Bedürfnisse, die so tief sind, daß man sie nicht benennt, nicht einmal sich selbst gegenüber. Sie gleichen den unterirdischen Magmaströmen, auf denen sich die Kontinente bewegen.

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