Der Pate von Bombay
Er kann die Zeit auf die Veränderung hinlenken.«
Ich nickte. »Ich verstehe, Guru-ji. Was soll ich tun?«
»Wir müssen noch eine Fuhre machen, Arjun, eine letzte.«
Eine Fahrt, eine Lieferung sei noch nötig. Die Fracht sei weder besonders sperrig noch besonders schwer. Es handele sich um etwas Bargeld - hauptsächlich Rupien, aber auch ein paar Dollars, die im Ausland eingetrieben worden seien und nun ins Land gebracht werden müßten. Außerdem diverses Laborgerät, das Guru-jis Leute für landwirtschaftliche Experimente im Punjab brauchten. Dieses könne natürlich auch auf normalem Weg eingeführt werden, doch die Zollformalitäten würden Wochen, womöglich Monate in Anspruch nehmen und dadurch wichtige Arbeiten aufhalten. Und schließlich gehe es noch um ebenfalls dringend benötigtes Computerzubehör. Keine Waffen, keine Munition. Ganz einfach, und nicht einmal etwas, worüber sich Kulkarni erregen könnte. »Ich würde dich nicht darum bitten, Arjun«, sagte Guru-ji, »wenn es nicht von größter Bedeutung wäre. Ohne diese Fracht bliebe unsere Arbeit der letzten Jahre unvollständig, unvollendet. Ich könnte die Sachen natürlich leicht über andere Kanäle herbeischaffen lassen. Aber wir beide haben eine Geschichte miteinander. Zwischen uns herrscht Vertrauen. Bei dieser Lieferung darf nichts schiefgehen. Ich weiß, daß du in großer Gefahr schwebst, Arjun. Ich werde also nicht sagen, daß du es für mich tun mußt. Aber ich bitte dich darum und überlasse die Entscheidung dir.«
Natürlich willigte ich ein. Als sein Schüler konnte ich gar nicht anders. Außerdem verdankte ich ihm viel, er hatte mich immer wieder und auf ganz unterschiedliche Weise gerettet. Ich sagte ihm, daß ich es tun würde, daß ich mit den Vorbereitungen beginnen würde, sobald ich mich wieder auf thailändischen Gewässern befände. Dann bat ich ihn, noch einen Tag mit ihm verbringen zu dürfen. Es war für uns beide riskant, aber ich mußte diese Bitte äußern. Ich hatte eine Vorahnung, eine fast greifbare Gewißheit, daß ich ihn nicht wiedersehen würde. Ich sagte ihm das, und er bestätigte es ruhig. »Ja, das stimmt«, sagte er. »Ich weiß es auch.«
»Sie können es sehen?«
»Ja.«
»Warum? Was wird passieren?«
»Ich weiß nicht. Das sehe ich nicht. Doch ich sehe, daß dies unser letztes Treffen ist.«
»Wie können wir das beide wissen? Ist schon geschehen, was auch immer geschehen wird? Aber wie kann das sein?«
»Unser kleiner Verstand denkt, die Zeit sei wie ein Bahngleis, Arjun, das stetig in die Zukunft führt. Doch die Zeit ist weitaus komplexer.«
»Sind wir denn in der Zukunft bereits auseinandergegangen?«
Guru-ji schüttelte den Kopf. »Jeder Moment enthält eine gewisse Anzahl von Wahrscheinlichkeiten. Wir können ständig Entscheidungen treffen. Wir sind also keine Maschinen, die sich auf einem Gleis vorwärts bewegen, das nicht. Aber völlige Freiheit gibt es nicht. Wir sind durch unsere Vergangenheit, durch die Folgen unserer Handlungen gebunden. Wir können im Wirrwarr der Ereignisse dieser oder jener Entscheidung zuneigen. Und manchmal, an einem Knotenpunkt, konvergieren die Wahrscheinlichkeiten zu etwas, das einer Gewißheit sehr nahe kommt. Und wenn man imstande ist, zu hören und zu sehen, dann weiß man es.«
Wir wußten es also beide. Ich nahm nicht für mich in Anspruch, ein Seher wie Guru-ji zu sein, seine spirituelle Kraft oder seinen Einblick zu haben. Und doch wußte ich es. »Na gut, Guru-ji. Ich erinnere mich, daß Sie in einem Ihrer Pravachans gesagt haben, jeder Begegnung wohne der Anfang des Verlusts bereits inne.«
»Ja. Wir finden einander nur, um einander wieder zu verlieren. Der Verlust ist unvermeidlich.«
»Es gibt also keinen Grund zur Trauer. Vielleicht werden wir einander wiederfinden.«
»Vielleicht. Aber Arjun, selbst wenn wir uns nicht mehr persönlich begegnen, möchte ich dich in diesem Leben nicht so bald verlieren.«
»Guru-ji?«
»Ich sehe im Osten Gefahr für dich lauern. Große Gefahr.«
»Woher, Guru-ji? Von wem?«
»Das kann ich nicht sehen. Aber dein Leben ist bedroht. Sei sehr vorsichtig.«
»Ich werde vorsichtig sein. Wie immer. Sogar noch vorsichtiger als sonst.«
»Ich werde über dich wachen.«
Wir machten einen Spaziergang. Es gab nichts mehr zu sagen oder zu tun. Ich lebte in Gefahr, schon seit Jahren, und jetzt hatte mich Guru-ji gewarnt. Ich würde noch wachsamer sein, sofern das überhaupt möglich war. Guru-ji war gern im Grünen,
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