Der Pate von Bombay
Menschen umgebracht wurden, und er haßte es, wenn Mörder ungestraft davonkamen. Auch Katekar wußte, daß Sartaj bestimmte Fälle nicht aus reinem Idealismus durchzog. Es war einfach Verbohrtheit. Sie hatten das schon mehrmals durchexerziert: Sartaj verfolgte hartnäckig eine Spur, und Katekar blieb ihm, wenn auch grollend, dicht auf den Fersen. Manchmal fragte er sich, warum Katekar sich nicht auf einen ruhigeren Posten versetzen ließ. Wahrscheinlich brauchte er das Geld. Er spulte jedesmal dasselbe Ritual ab und kam dann doch mit. Sartaj bog von der Straße ab und begann den Hügel hinaufzusteigen, und er wußte, daß Katekar dicht hinter ihm folgte.
In Navnagar war es vormittags nicht ganz so voll, doch Sartaj spürte die Enge zwischen den Kholis, während er sich seinen Weg durch die Gassen bahnte. Die Leute traten beim Anblick seiner Uniform zwar zur Seite und drückten sich an die Hauswände, aber er mußte dennoch den Oberkörper drehen, um sie nicht zu streifen. In dieser Stadt gab es Raum für die Reichen, wenig Raum für die Mittelschicht und gar keinen für die Armen. Das war der Grund, weshalb Papa-ji nach seiner Pensionierung nach Pune gezogen war. Er wolle beim Aufwachen weit schauen können, hatte er erklärt, wolle spüren, daß es auf der Welt noch leeren Raum gebe. Er hatte sein kleines Rasenstück und den Gemüsegarten hinter dem Haus bekommen, doch Sartaj hegte den Verdacht, daß er die tunnelartigen Straßen in den Slums von Bombay manchmal vermißt hatte, diese Hütten, die Jahr für Jahr weiter vorwärts krochen, die mit jedem kleinen Anbau Terrain eroberten und sich darauf behaupteten. Bestimmt hatte er oft daran zurückgedacht.
Papa-ji hatte nie speziell von Navnagar erzählt, vielleicht weil dort nichts Spektakuläres passiert war. Aber er hatte Sartaj oft gesagt, daß der Weg zu einem Apradhi 024 über dessen Familie führe. Finde die Mutter und den Vater, hatte er gesagt, und du findest den Dieb, den Mörder, den Fälscher. Und so machten sich Sartaj und Katekar in Navnagar auf die Suche nach den Verwandten von Bazil Chaudhary und Faraj Ali, die ihren Freund Shamsul Shah getötet hatten. Wie nicht anders zu erwarten, waren die nächsten Angehörigen der Mörder geflüchtet. Noch am Tag des Mordes hatten sie alle Habseligkeiten zusammengepackt, die sie mitnehmen konnten, hatten ihre Kholis abgeschlossen und sich davongemacht. Sartaj und Katekar brachen die Schlösser auf und fanden im Innern alte Matratzen, leere Jutesäcke und ein altes Farbfoto von Bazil Chaudharys Familie. Bazil war auf dem Bild ungefähr zehn, ein Junge in einem leuchtend roten Hemd, aber wenigstens wußte Sartaj jetzt, wie seine Eltern aussahen. Er zweifelte nicht daran, daß er sie finden würde, früher oder später. Sie waren arm, sie würden das Kholi verkaufen müssen, sie würden auf ihre Beziehungen in Navnagar angewiesen sein, um zu überleben. Zu verschwinden war weit schwieriger, als die Menschen gemeinhin annahmen. Aufgabe des Polizisten war es, die Fäden ihres Lebens aufzunehmen und sich daran entlangzuhangeln.
Die Verhöre an diesem Vormittag in Navnagar erbrachten einiges an Erkenntnissen, nichts Bahnbrechendes zwar, aber alles in irgendeiner Weise von Belang. Die Bangladeshi-Nachbarn des Opfers und der Apradhis zeigten sich mürrisch und verschlossen und behaupteten, von nichts zu wissen. Nachdem Katekar sich drohend vor ihnen aufgebaut und Sartaj mit einer Fahrt aufs Revier und sofortiger Ausweisung gedroht hatte, gaben sie zu, möglicherweise doch etwas zu wissen, ein ganz klein wenig zumindest. Shamsul - der Tote - und Bazil hätten als Kuriere gearbeitet, und Faraj habe von Gelegenheitsjobs gelebt. In den letzten Monaten hätten allerdings alle drei reichlich Geld gehabt, und niemand wisse, woher.
Die leeren Kholis, die Sartaj und Katekar durchsuchten, hatten nicht eben nach Geld ausgesehen; die Familien der Apradhis hatten ihre Luxusgüter mitgenommen. Im Haus des toten Jungen aber stand ein nagelneuer Farbfernseher, und die Küchenecke zierten eine großer Gasherd und blinkende Edelstahltöpfe. Der Vater gestand nun, daß sein verstorbener Sohn vor einigen Tagen ein neues Kholi gekauft hatte.
»Er war ein guter Junge«, sagte Nurul Shah.
Das Kholi war winzig, ein einziger, mit einem ausgebleichten roten Tuch unterteilter Raum. Hinter dem Vorhang hörte man einige Frauen tuscheln und rascheln. Die Familie brauchte mehr Platz, und der gute Junge hatte dafür gesorgt, daß sie ihn bekam. Sie
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