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Der Pate von Bombay

Titel: Der Pate von Bombay Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vikram Chandra
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Klasse wechselte er auf die höhere Schule in Zila. Aadil überhaupt zur Schule zu schicken war schwierig genug gewesen, denn Aadils Eltern hatten kein Geld für Bücher, Schiefertafeln und Stifte. Jetzt wurde es noch schwieriger, nicht nur, weil noch mehr Bücher und dazu Kugelschreiber und ein Geometriekasten benötigt wurden. An vielen Tagen mußte Aadil auch auf dem Feld arbeiten, besonders während der Pflanzzeit und der Ernte, an anderen brannte er mit seinen Onkeln und Cousins Ziegel. Er war nun alt genug, um Geld zu verdienen, und das tat er auch. Mäuler waren zu stopfen, Häuser instand zu halten, Hochzeiten auszurichten. Trotzdem lernte Aadil beharrlich weiter, und er hielt durch. Er las geliehene Bücher und verbrachte so manchen Abend unter den flackernden Glühbirnen der Shivnath Jha Sarvajanik 563 Pustakalaya, einer Bibliothek, die von einem berühmten brahmanischen Grundbesitzer aus der Gegend gestiftet und nach seinem überaus gelehrten Vater benannt worden war. Das Personal bekundete anfangs ein leichtes Unbehagen, als sich ein Muslimjunge so keck unter dem girlandenbekränzten Porträt des alten Mannes niederließ, der sein ganzes Leben mit Bad, Reinigung und Gebet zugebracht hatte. Bald aber hatte man sich daran gewöhnt, Aadil dort, über ein Buch oder eine Zeitung gebeugt, auf einer Holzbank sitzen zu sehen. Die Zeiten änderten sich, die beiden Räume mit ihren wenigen Regalen waren nun einmal für die Öffentlichkeit bestimmt, und Aadil war eindeutig ein Mitglied dieser Öffentlichkeit, wenn auch ein schmutziges, manchmal abstoßendes. So erfuhr Aadil vieles über Rajpur und die Welt dahinter. Er fand seinen Platz nicht nur im Raum, sondern auch in der Zeit. Ich gehöre, dachte er eines Tages, ins zwanzigste Jahrhundert.
    Rajpur aber verharrte stur in einer anderen Zeit, einer Ära, die noch nicht ganz Gegenwart und definitiv nicht Zukunft war. Die von Schlaglöchern übersäte Straße, die aus der Stadt hinausführte, glich in nichts den Sowjetautobahnen auf den Schwarzweißfotos der Zeitschriften, die Aadil las, und der Anblick von Dörfern in Amerika, in denen alle Häuser Strom und Telefon hatten, erfüllte ihn mit ehrfürchtigem Staunen. In Rajpur gab es nur ein einziges Telefon, bei Nandan Prasad Yadav, und Aadil hatte es noch nie zu Gesicht bekommen. Drei Filme hatte er gesehen, zwei davon in einem Wanderkino. Dessen Betreiber kam in einem Jeep angefahren und entrollte unter freiem Himmel eine schmutzigweiße Leinwand, auf der nach Einbruch der Dunkelheit ein Film in schreienden Technicolor-Farben lief. Dann baute Prem Shanker Jha ein Kino, das er Parvati 482 nannte, und dort sah Aadil, dicht vor der Leinwand auf dem Boden sitzend, Bobby . Doch nicht von Rishi Kapoors schnittigem Motorrad träumte er danach oder von Dimple Kapadias 176 schimmerndem, fast nacktem Körper, sondern von den sauberen zweistöckigen Steinhäusern, den Telefonen, den Straßen, dem Wasser, das wie durch Zauberei aus Hähnen strömte. Allmählich wurde ihm bewußt, wie schmutzig Rajpur war mit seinen offenen Abzugskanälen, den planlos angelegten Gassen, den streunenden Meuten spindeldürrer Hunde. Die Felder dehnten sich bis zum Horizont, eine lange Marschkolonne von Strommasten ohne Drähte endete abrupt auf rissigem Ödland, und über den Dächern des Ansari Tola lärmten unablässig die Krähen. Kinder wurden geboren, Ehen geschlossen, alte Männer und Frauen starben, aber alles blieb, wie es war. Bei Prem Shanker Jhas Mangohain spielte Aadil mit Brahmanen-, Yadav- und Bhumihar 087 -Jungen Fußball und Gilli-danda 231 , bei ihnen zu Hause aber war er nie gewesen, und sie wiederum hatten nie einen Fuß ins Ansari Tola gesetzt. Kein Paswan 483 hätte je den Innenhof eines Brahmanen- oder Bhumihar-Hauses betreten, und selbst draußen hätte sich der arme Mann auf die Erde gehockt, um mit seinem hochkastigen Herrn zu sprechen, der seinerseits bequem auf einem Khattia 333 ruhte. Den Niederen waren keine Stühle gestattet, kein Stolz, keine Würde.
    Als Aadil in der neunten Klasse war, starb sein Onkel, der sanfte Salim - der ihn so viele Jahre zuvor gefunden hatte, als er die Straße nach Patna entlangspazierte -, an einem Darmleiden, das ihn in sturzbachartigen Durchfällen entleerte. Seine trauernden Verwandten bahrten den ausgezehrten Leichnam auf, wuschen ihn, hüllten ihn in ein weißes Leichentuch und trugen ihn auf den Muslimfriedhof am westlichen Rand von Rajpur. Doch der Maulvi 408 , der in der Moschee

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