Der Pate von Bombay
klingelte Sartajs Handy abermals. Er war gerade im Bad, tappte in sein Schlafzimmer, das Gesicht noch voller Seife, und fand das vibrierende Handy auf dem Bett. »Hallo?« sagte er.
Wieder waren die Atemzüge zu hören. Diesmal spürte Sartaj, daß der stumme Anrufer sehr wütend auf ihn war. »Sir«, sagte Sartaj, »Sie müssen mich anhören, Sir. Es war sehr wichtig. Ich werde Ihnen alles erklären.«
Doch der Anrufer legte auf. Ein Klicken, dann nichts mehr. Am Abend, als Sartajs Schicht zu Ende ging, betrat Kamble den Verhörraum. »Boß«, sagte er.
»Was ist?« blaffte Sartaj. Er hatte gerade das Verhör eines bewaffneten Räubers überwacht. Seit seiner Beförderung hatte er es nicht mehr nötig, die Häftlinge selbst ins Kreuzverhör zu nehmen. Er gab nur noch Anweisungen und schaute zu. Es roch nach Schweiß und Urin im Raum.
»Kommen Sie lieber hier raus«, sagte Kamble. Und dann auf englisch: »Please.«
Sartaj folgte ihm in den Flur, der auf das Gelände des Reviers hinausführte. Kamble faßte ihn am Ellbogen und ging mit ihm ans Ufer des Teichs. Über ihnen kreisten Vögel. »Parulkar ist gefunden worden, heute nachmittag.«
»Sehr gut. Wo hat er sich gestellt?« Denn wenn Parulkar nicht gefaßt werden wollte, dann wurde er auch nicht gefaßt.
»Nein, nicht so. Er ist gefunden worden.«
Eine Dreiviertelstunde zuvor, erzählte Kamble, hatte das Sonderkommando, das Parulkars Haus überwachte, plötzlich Schreie von drinnen gehört. Die Männer waren hineingestürmt und hatten zwei von Parulkars Enkelinnen völlig aufgelöst vorgefunden. Parulkar war, wie sich herausstellte, die ganze Zeit in seinem Haus gewesen. Es gab in dem alten Familiensitz unter einer Treppe eine Geheimtür, die in einen kleinen Raum hinter der Küche führte. Parulkar hatte sich häuslich darin eingerichtet, und er hätte ewig dort bleiben können, denn er wurde mit Nahrung und allem Nötigen versorgt, und die Ermittlungen konzentrierten sich anderswo, bis hin nach Pune und Cochin. An diesem Nachmittag aber war er aus seinem Versteck hervorgekommen und in sein Zimmer gegangen, unbekümmert um das Tageslicht, das er bis dahin gemieden hatte. Er hatte sich rasiert, gebadet und eine frische Kurta angezogen. Er hatte seine Uhr abgenommen und auf den Nachttisch gelegt. Dann hatte er den Schlüssel zu dem Stahlschrank neben seinem Bett genommen, hatte den Schrank und das Schließfach darin geöffnet und seine Dienstpistole herausgeholt. Darauf war er wieder ins Bad gegangen, hatte seine Chappals abgestreift und war in die Wanne gestiegen. Die beiden Mädchen hatten den Knall gehört, waren ins Bad gerannt und hatten ihn gefunden.
»Bas«, sagte Kamble. »Das ist alles, was ich bis jetzt weiß.«
Sartaj ging ein paar Schritte weiter. Schatten bewegten sich über das Wasser, und vom anderen Ufer liefen kleine Wellen aufeinander zu und ineinander. Das ist alles, was wir bis jetzt wissen, dachte er. Das ist auch alles, was wir je wissen werden. Wir sterben für Dinge, die wir nicht verstehen, wir opfern die, die wir lieben. »Ich muß hin«, sagte er.
»In das Haus? Nein, Boß, nicht jetzt. Gehen Sie da nicht hin.«
»Ja, Sie haben recht. Das sollte ich besser lassen. Okay. Ich glaube, ich bleibe noch eine Weile hier.«
Kamble ging ins Haus zurück. Sartaj blieb draußen. Er lauschte auf das Flattern der Fahne an dem Tempel und blickte übers Wasser. Er hatte das Gefühl, daß eine Veränderung bevorstand. Er wartete. Aber er wußte nicht, ob sie je eintreten würde.
Menü
Exkurs:
Zwei Tote in fernen Städten
I
D as Ansari Tola 638 in Rajpur lag im Osten der Stadt, von der Kreuzung aus gesehen jenseits des Flußbettes, hinter einer Reihe Dattelpalmen. Es bestand nur aus elf Hütten, die sich in einem unregelmäßigen Kreis dicht zusammendrängten. Ein matschiger Weg führte vom Abzugskanal zum Tola hinab, und die erste Hütte, die höchstgelegene, gehörte Noor 458 Mohammed. Er besaß sieben Kattha 322 karges Land, auf dem er Kartoffeln und Mais anbaute, und einen Pferdewagen, der von einem alten Klepper gezogen wurde. Seine Frau hieß Mumtaz Khatun, und sie hatten drei Kinder, einen Jungen und zwei Mädchen. Noor Mohammed war der am wenigsten arme Bewohner des Ansari Tola, was bedeutete, daß er und seine Familie gerade so über die Runden kamen und seine Kinder kaum jemals mit dem Bauch voll Chillis und Wasser einschlafen mußten. Noor Mohammed und Mumtaz schickten ihren Sohn zur Schule, wenn auch mit Unterbrechungen, je
Weitere Kostenlose Bücher