Der Pate von Bombay
Bauholz und Zement transportiert wurden. Einmal in der Woche half er Maqbool Khan bei der Buchhaltung. Am Ende des ersten Jahres durfte er selbst ans Steuer und war dann manchmal eine ganze Woche unterwegs.
Aadils Haare begannen auf der linken Seite zu ergrauen. Seine Mutter schrieb es seiner Bildung zu, den langen Nächten, in denen er bei flackerndem Lampenlicht über seinen Büchern saß, dem Umstand, daß er nicht verheiratet war, dem Streß des Lasterfahrens Woche um Woche. Sein Vater riet ihm, die grauen Stellen mit Henna zu färben oder gar mit einem der teuren Haarfärbemittel, die neuerdings auf dem Bazaar erhältlich waren. Doch Adil gefiel das Grau. Es verlieh ihm das reife Aussehen eines großen Wissenschaftlers, fand er. Dennoch erschrak er manchmal, wenn er in einem gesprungenen Rückspiegel einen Blick auf sich selbst erhaschte und sich im ersten Moment fragte, wem dieses faltige Gesicht gehörte. Nach zwei Jahren - er hatte inzwischen genug Geld beisammen, um nach Patna zu gehen - war sein ganzer Kopf von vorn bis hinten und von links nach rechts silbermeliert. Vorzeitig ergraut und voll neuer Energie kam er an die Universität von Patna.
Patna war nicht so, wie er es sich vorgestellt hatte. Es war groß, die größte Stadt, die er je gesehen hatte, und da und dort gab es tatsächlich breite Straßen und auch einige Parks, aber Teile der Stadt sahen aus wie Ansammlungen von Dörfern oder wie ein aufpoliertes Rajpur im Kleinformat: verwahrloste Hütten, verwinkelte Gassen und Abfallhaufen. Im Universitätsviertel aber standen einige imposante alte Gebäude, teils noch aus der Kolonialzeit, teils von späteren Wohltätern gestiftet. Es gab dort alte Bäume, und abends saß Aadil gern an den Ghats und blickte zum anderen Ufer hinüber. Die Menge der Studenten an der Universität und den benachbarten Colleges war überwältigend. Es erleichterte Aadil irgendwie, zu großen Veranstaltungen zu gehen, einer Kundgebung, einer Vorlesung oder einer Gedenkfeier, die zahllosen Gesichter zu sehen und zu wissen, daß es Hunderte, Tausende anderer gab, die den gleichen Weg gegangen waren wie er, daß wenigstens einige andere den gleichen Hunger gelitten hatten. Weit weg von seiner Familie und vom Ansari Tola, empfand Aadil eine Einsamkeit, die er bis dahin nicht gekannt hatte, aber er hieß sie als einen zunehmenden Schmerz willkommen. Ich bin jetzt in der Stadt, dachte er, und ich muß lernen, modern zu leben. Das muß sein.
Zwischen den Labors und Garküchen von Patna versuchte Aadil, sich neu zu definieren, doch sein früheres Ich holte ihn immer wieder ein. Irgendwoher kannten seine Kommilitonen seinen Spitznamen Dibba. Vielleicht hatte einer seiner früheren Professoren in Rajpur ihn gegenüber einem Freund am Zoologischen Institut erwähnt, vielleicht studierte ein Junge aus Rajpur an einem anderen College und hatte ihn auf der Straße gesehen. Wie auch immer: Patna wußte, wer Aadil war, wer sein Vater war. Man wußte, daß er Laster gefahren und gewaschen hatte. Seine ungewöhnliche Vergangenheit fand Anerkennung, und einer seiner Professoren sagte ihm - unter vier Augen -, es müsse Anregung und Ermutigung für jeden angehenden Wissenschaftler sein, daß ein so armer Junge es so weit gebracht habe. Aadil aber hörte den geringschätzigen Unterton in diesem hochgesinnten Kompliment heraus, und der Professor schenkte ihm danach auch keinerlei Beachtung mehr, er bot ihm weder Rat und Hilfe noch Zuschüsse oder Stipendien an. Aadil arbeitete allein. Dreimal ging er, nachdem er sein eigenes Namaaz verrichtet hatte, zu den Treffen muslimischer Studentenvereinigungen, doch die Beschränktheit ihrer Diskussionen, die alles und jedes auf den Glauben und dessen Geschichte einengten, schreckte ihn ab. Und so konzentrierte er sich auf seine Arbeit und blieb bis spätabends im Labor, er las, während das Wohnheim von grölendem Gelächter widerhallte, und legte sich dann schlafen.
Im ersten Monat des zweiten Jahres lernte Aadil Jagarnath Chaudhury kennen. Jaggu, wie er genannt wurde, war ein Bhumihar-Brahmane aus Gopalganj im äußersten Nordwesten. Er besaß ein Motorrad und trug knallrote und -gelbe Jacketts, und wenn er durch die Flure stolzierte, sang er mit seinem samtigen Bariton Filmsongs. Eines Nachmittags saß er auf dem Soziussitz seines Motorrades, den Fuß auf die Mauer gestützt, die das Wohnheim umgab. Lärmend und scherzend verabredeten er und seine Kumpels sich für ein Theaterstück, das ein
Weitere Kostenlose Bücher