Der Pate von Bombay
Laienensemble am Abend aufführen wollte. Aadil drückte sich mit einem Stapel Bücher an ihnen vorbei und war schon fast an der Treppe, als Jaggu rief: »Are, du da, du kommst auch mit.« Aadil protestierte und erklärte, er müsse noch lernen und sich für den nächsten Tag vorbereiten, doch Jaggu wollte nichts davon hören. »Sei doch kein solcher Sadial 546 «, sagte er. »Die Karten haben wir schon. Du kommst mit, Harami.« Jaggus freundlich gemeinte Schimpfworte wirkten irgendwie überzeugend, und so sagte Aadil nichts mehr und kam mit. Das Stück war katastrophal schlecht, das merkte selbst Aadil, der noch nie ein Theaterstück gesehen hatte: ein miserabel gespieltes Melodram über schikanierte Schwiegertöchter, mit einem angepappten Happy-End. Und doch fand Aadil es herrlich, auf harten Holzbänken in dem abgedunkelten Raum zu sitzen, witzige Bemerkungen zu machen, zu kichern und fettige Samosas zu essen. Hinterher gingen sie in ein Restaurant und aßen Huhn mit Tandoori rotis. Aadil lehnte die Bierangebote ab, gönnte sich aber eine Coca-Cola. Der herbsüße Geschmack entspannte ihn irgendwie, und er lachte über Jaggus Witze und erzählte selbst eine Geschichte vom alten Ramdas, einem Bauern aus Rajpur, der nicht glauben wollte, daß Menschen auf dem Mond gelandet waren. Sie blieben bis tief in die Nacht und gingen dann durch leere Straßen nach Hause. Trotzdem wachte Aadil am nächsten Morgen erfrischt auf. Eine unerklärliche Leichtigkeit erfüllte ihn, als er sich auf den Weg machte, und die Arbeit ging ihm mühelos von der Hand. Bei seiner Rückkehr ins Wohnheim blieb er eine Stunde mit Jaggu und den anderen am Tor sitzen.
So hielt er es nun jeden Tag. Er besaß genug Disziplin, um morgens aufzustehen und in seine Vorlesungen zu gehen, abends aber diskutierte er mit den anderen über Politik, Korruption, Filme, das Weltgeschehen, den Klimawandel, Frauen, Kricket. Das Gespräch sprang von einem Thema zum nächsten, in einer Mischung aus Hindi, Bhojpuri 086 und Magahi, mit Englisch durchsetzt. Wenn Aadil eine Anspielung nicht verstand oder dem Slang nicht folgen konnte, schwieg er. Durch diese Zusammenkünfte und die Abende im Restaurant wurde ihm klar, wie vieles er nicht wußte vom Leben seiner neuen Freunde, von Leuten, die nicht im Ansari Tola wohnten. Er hatte so viel gelesen, und dennoch war seine Welt begrenzt geblieben, nicht nur, weil Rajpur klein war. Nachdem er nun Freunde hatte, die mit einem Fernseher im Haus aufgewachsen, für die Motorräder und Reisen nach Kalkutta selbstverständlich waren, deren Eltern Zeitungen und Zeitschriften abonniert hatten, begriff er, daß Armut ein Land für sich war, daß er ein Fremder war, der unbeholfen durch unbekannte Gefilde stolperte. Aber er lernte schnell, und er gab sich Mühe. Er hatte große Angst davor, sich zu blamieren, war deshalb schüchtern und scheute vor zu großer Vertraulichkeit zurück, doch Jaggu klopfte immer wieder bei ihm an und bezog ihn in die Pläne der Gruppe ein. »Wach auf, Dilip-saab«, sagte er, »wir müssen los.« Er behauptete steif und fest, Aadil sei Dilip Kumar zum Verwechseln ähnlich, bis hin zu dessen leiser Stimme und seinem tragischen Gemurmel. »Mit einem Gewehr in der Hand«, hatte er einmal gesagt, »könntest du direkt aus Ganga Jamuna 208 entsprungen sein.« Das war in Jaggus Sprachgebrauch ein großes Lob. Doch da Jaggu sich selbst als Ebenbild von Jackie Shroff betrachtete und ihn in allem akribisch nachahmte, nahm Aadil das Kompliment nicht allzu ernst. So großzügig Jaggu war, so sehr machte er sich etwas vor. Er glaubte allen Ernstes, er habe seiner Herkunft aus einer Familie mittlerer Bhumihar-Zamindars abgeschworen, indem er Geschichte studierte und sich in Patna in Schauspieler- und Dichterkreisen bewegte, aber er lebte von üppigen monatlichen Überweisungen von zu Hause. Er sagte, er glaube nicht an Kaste und Religion, aber einmal - spätnachts und nach etlichen Flaschen Bier - gestand er, daß er Menschen niedriger Kasten für unsauber halte. »Sie waschen sich nicht«, flüsterte er vertraulich. »Das ist bei denen nicht üblich, verstehst du? Das mußt du doch zugeben.« Ob die Muslime sich wuschen oder nicht, darüber äußerte er sich nicht, aber er hatte eine Vorliebe für patriotische Filme über die Kämpfe mit Pakistan. Er aß mit Begeisterung Tandoori chicken und war der Überzeugung, Geschichtsschreibung müsse auf erwiesenen Fakten und archäologischen Beweisen beruhen, aber er war
Weitere Kostenlose Bücher