Der Pate von Bombay
Sie nickten verständig und versprachen aufzupassen, aber Aadil sah, daß sie wie Kinder mit einem neuen Spielzeug waren und Versprechungen machten, die sie nicht halten konnten. Am nächsten Tag zog er wieder um, ans andere Ende von Navnagar. Sein neues Zimmer hatte einen glatten Fliesenboden, den der Vormieter gelegt hatte, und fließendes Wasser. Er verbot den Jungen, ihn dort aufzusuchen, und traf sich nur noch außerhalb des Basti mit ihnen. Sie protestierten erst, vor allem Bazil, aber Aadil erklärte ihnen, wie wichtig Sicherheit und Diskretion seien. »Wenn ihr weitermachen wollt«, sagte er, »müßt ihr unsichtbar sein, ihr müßt euch bewegen wie Fische im Wasser. Und ihr müßt tun, was ich sage.« Und sie wollten weitermachen, obwohl sie nun die Taschen voller Geld hatten. Sie brauchten mehr.
Aadils Wünsche waren bescheiden. Er hatte sein Kholi, er kochte sich sein Essen selbst, und tagsüber trank er stark gesüßten Tee. Das war, von den Büchern abgesehen, der einzige Luxus in seinem neuen Leben. Er brachte seine Tage damit zu, Zoologiebücher zu lesen, meist bei Straßenhändlern gebraucht gekaufte Lehrbücher. Er staunte, wieviel er noch wußte, wie schnell er alles wieder präsent hatte. Er las ohne Ziel oder Plan, aus reiner Freude an der Sache. Eine Spezies zu ihrem Stamm, die Struktur in eine bestimmte Richtung und wieder zurück zu verfolgen war ihm Sinn genug. Er brauchte keine Politik. Und so lebte Aadil vor sich hin, sehr ruhig, und einmal im Monat planten er und die Jungen einen Job und führten ihn aus. Shamsul wollte mehr, doch Aadil riet zu Geduld und Geheimhaltung. Die drei wollten nicht nur ihre Kholis umbauen und ihren Müttern einen neuen Herd kaufen, sie träumten neuerdings auch von einem Auto. Doch vorerst gehorchten sie Aadil. Ein einziger guter Job im Monat, sorgfältig gewählt und ausgekundschaftet, brachte genug ein, um sie zufriedenzustellen. So ging es sieben Monate lang. Aadil las nun auch Chemiebücher. Nachdem er so viel über Organismen und Zellen erfahren hatte, wollte er auch sehen, wie Substanzen reagieren und etwas Neues hervorbringen. Es bereitete ihm ein unerklärliches Vergnügen, wenn die Elemente zusammenkamen und Wärme, Feuer und Leben erzeugten. Soweit er es beurteilen konnte, folgten diese Interaktionen keinem höheren Sinn. Sie vollzogen sich einfach, das war alles. Und es paßte perfekt zu seinem eigenen Lebensgefühl. Er hatte mitunter an Selbstmord gedacht, auf eine distanzierte, theoretische Art, aber dann hatte er gemerkt, daß er am Leben hing. Warum, wußte er nicht, es sei denn, wegen des süßen Tees und der lindernden Wirkung der Fakten. Wahrscheinlich war der Grund ein ganz einfacher, dachte er. Ein Virus wollte sich vermehren, ein Insekt floh bei Gefahr. Und er wollte leben.
Und so lebte Aadil weiter, ruhig und im verborgenen. Wenn ihn nicht gerade seine Kopfschmerzen quälten, war er ganz zufrieden. Es überraschte ihn, daß er sich nach dem kameradschaftlichen Miteinander in den Lagern nicht einsam fühlte, aber die Bücher waren ihm Trost genug. Er empfand Zärtlichkeit für sich selbst, für seinen vorzeitig gealterten Körper, und manchmal gönnte er sich einen bescheidenen Luxus: eine neue Matratze, zwei Bettwäschegarnituren, eine Flasche Haarwaschmittel. Um die Zukunft machte er sich nicht allzu viele Gedanken, obwohl er das Gefühl hatte, als lauerte unter der trügerischen Leichtigkeit, die Mumbai ihm beschert hatte, die Katastrophe, als sei sie ganz nahe. Doch als sie schließlich eintrat, kam sie von einer Seite, mit der er am wenigsten gerechnet hatte. Die Jungen hatten sich gemacht, fand er. Sie waren nicht mehr nervös bei ihren Aktionen, sie gingen professionell und mit ruhiger Wachsamkeit vor. Nach ihren anfänglichen Extravaganzen, was Kleider, Fernseher und Frauen betraf, hatten sich Shamsul, Bazil und Faraj zu umsichtigen Geschäftsleuten entwickelt, die ihr Geld in kleine, von Cousins und Tanten betriebene Geschäfte investierten und dabei hohe Renditen erzielten. Alle drei hatten zugenommen und vermittelten einen wohlhabenden Eindruck. Aadil begann zu glauben, er habe sich durch reinen Zufall ein gutes, verläßliches Team herangezogen. Die Jungen waren Freunde, sie hatten dieselben Interessen, teilten dieselben Erfahrungen und Gefahren.
Doch dann töteten Faraj und Bazil Shamsul. Aadil schlief an dem Nachmittag in seinem Kholi, als Bazil wie wild an seine Tür hämmerte. Aadil schreckte aus einem Traum hoch, in dem er
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