Der Pathologe weiß alles, ... aber zu spät.
erzählte Joseph Hyrtl (1810-1894), der bedeutendste österreichische Anatom des vergangenen Jahrhunderts: „Ich hatte eine Kindesleiche nach Hause getragen, um meine ersten Einspritzungsversuche zu machen. Ich setzte sie, da meine Kammer nicht heizbar war, in einem Küchentopf in den Ofen, wo meine Mutter das Mittagmahl kochte. Als Zeit zum Anrichten war, ergriff sie das unrechte Geschirr, aus welchem ihr ein hartgesottenes Menschengesicht entgegenstarrte. Ein Schrei, eine Ohnmacht folgte. Topf und Kind lagen auf dem Boden. Ich raffte es auf, um es unter meinem Mantel (es war Winterszeit) eiligst und bestürzt zurückzutragen. Auf der Schlagbrücke [Brücke über den heutigen Donaukanal in Wien] angelangt, tat ich auf dem Glatteis einen schweren Fall. Ein Polizeimann half mir auf und entdeckte, als der Wind den Mantel lüftete, meine heimliche Bürde. Festgenommen, auf das Kommissariat geschleppt und einstweilen in festen Gewahrsam gesteckt. Gegen Abend Verhör, Verteidigung als wahrscheinlich angenommen, aber Unschuld an Kindesmord nicht hinlänglich bewiesen. Ich berief mich auf den Anatomiediener Kaspar, bei dem ich das Corpus delicti um zwei Gulden gekauft hatte. Unter Bedeckung zweier Vertrauter wurde ich zu ihm geführt, Kaspar war total betrunken. Hierauf ging es zu Professor Mayer, dem Vorstand des Institutes, welcher sofort an dem roten Band der Nabelschnur erkannte, daß das Kind aus dem Findelhaus stammte. Er hielt mir eine kurze Verteidigungsrede und eine lange Strafpredigt, lud mich und die beiden Kriminalbeamten zum Nachtmahl ein, und so wurde aus dem vielbewegten Tag noch ein fröhlicher Abend.“
Die Tochter meines verehrten Lehrers hat im Kindergarten auf entsprechende Fragen nach dem Beruf der Eltern mit herzlicher Frische immer geantwortet: „Mein Vater ist ein Leichenschneider!“ Die Reaktionen waren zwiespältig.
WAS PATHOLOGEN TUN
Die Hauptaufgaben der pathologischen Anatomen sind:
1. Mitwirkung bei Diagnostik und Therapie von Erkrankungen. Dieser Dienst am Patienten - also am Lebenden - macht etwa 80 Prozent unserer Tätigkeit aus.
2. Durchführung von wissenschaftlich-diagnostischen Leichenöffnungen. Dies erfolgt zur exakten Feststellung von Hauptund Nebenkrankheiten sowie zur Bestimmung der Todesursache. Etwa 20 Prozent unserer Tätigkeit ist der Untersuchung von Toten gewidmet.
Die wissenschaftlich-diagnostische Leichenöffnung hat drei Namen,
welche den gleichen Vorgang bezeichnen, aber in ihrer
ursprünglichen Bedeutung völlig unterschiedlich sind.
Obduktion kommt vom lateinischen „obducere“, was „öffnen“ oder
„vorführen“ bedeutet.
Sektion stammt vom lateinischen „sectio“, das heißt
„Zerschneidung“.
Autopsie ist eine aus griechischen Wortteilen zusammengesetzte
Bezeichnung, „autos“ heißt „selbst“ und „opsis“ „Nachschau“. Es
geht also für den Arzt darum, „selbst nachzuschauen“.
Eine Obduktion ist die letzte ärztliche Untersuchung am Menschen
und die letzte Möglichkeit, die Krankheitssymptome mit
entsprechenden Organveränderungen vergleichen zu können. Die
klinische Obduktion ist überdies die weitaus billigste diagnostische
Methode; sie bringt für den Pathologen finanziell nichts. Der
diagnostische Wert ist dagegen sehr hoch, denn die Häufigkeit
entdeckter klinischer Fehldiagnosen liegt weltweit zwischen 20 und
40 Prozent, was dem Patienten allerdings nicht mehr hilft.
Es werden also vom Pathologen diagnostische Aussagen für die
verschiedensten Spezialdisziplinen der Medizin erwartet, d. h., wir
sind täglich mit dem Gesamtgebiet der Medizin konfrontiert - von der
Orthopädie über die Hepatologie und Gastroenterologie zur
Dermatologie und von der Gynäkologie über die Hals-Nasen-OhrenHeilkunde zur Hämatologie. Vom Pathologen wird verlangt, sich in
allen diesen schwierigen Spezialfächern auszukennen. In dieser
Beziehung gleicht der Pathologe oft einem einzelnen Schachspieler,
der gleichzeitig in einer Simultanveranstaltung gegen eine Vielzahl
verschiedener Partner antreten muß und dem aber so wenige Fehler
wie möglich unterlaufen dürfen.
Aus der Realität solcher medizinischer Situationen stammt wohl der erste Halbsatz unseres Buchtitels: „Der Pathologe weiß alles. . . “ Schön wär's.
Da wir aber bei den Leichenöffnungen ebenfalls unsere diagnostische Meinung abzugeben haben, entstand der etwas zynische zweite Halbsatz: „. . . aber zu spät.“
Das stimmt allerdings nicht, denn jede Obduktionsdiagnose erweitert das
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