Der Pathologe
hatten.
Beide Male blieb er nur kurze Zeit, studierte die Kräuselwellen des trüben Wassers, fand hier einen toten Krebs, dort einen sturmumtosten Felsen. Als der Regen kam, der eine Temperatur knapp über dem Gefrierpunkt hatte, ließ er ihn auf seinen unbedeckten Kopf niederprasseln.
Manchmal rollte er durch das Industriegebiet, das zwischen den beiden Schauplätzen der Morde lag, und fragte sich, wo man die nächste Frau finden würde. Fuhr ganz offen, wobei er aus dem Radio des Nova Oldies dröhnen ließ. Und dachte an schreckliche Dinge.
Nach Einbruch der Dunkelheit nahm er die landschaftlich schöne Strecke nach Norden. Dieselbe Strecke, die ihn zu dem Tor des Haverford Country Club und dem kurzen, kühlen Gespräch mit Tina Balleron geführt hatte. Dieses Mal verließ er den Hale Boulevard, bevor dieser das Gelände der Reitställe und Gutshöfe erreichte, und fuhr langsam durch elegante, von Ulmen gesäumte Straßen, an denen Bistros, Boutiquen, Juweliere und graue Stadthäuser lagen, bis er den Parkplatz fand, den er benötigte.
Ein Fleck, von dem er eine unverstellte Aussicht auf ein bestimmtes cremefarbenes Hochhaus aus Kalkstein hatte.
Ein postmodernes Ding mit überflüssigem Zierwerk, einem grünen Vordach, einer kreisförmigen gepflasterten Zufahrt und nicht einem, sondern zwei kastanienbraun livrierten Türstehern. Eine der besten Adressen am Hale.
Das Haus, das Dr. med. Theodore G. Dirgrove in seinem Lebenslauf unter »Privatadresse« aufgeführt hatte.
Exakt die Sorte gepflegtes, elegantes Gebäude, in dem man von einem erfolgreichen Arzt erwarten würde, dass er dort mit seiner Frau und zwei Kindern seine Zelte aufschlägt.
Das war eine kleine Überraschung gewesen, dass Dirgrove verheiratet war und mit Kindern einen auf häusliches Leben machte. Dann dachte Jeremy:
Nein, keine Überraschung. Natürlich würde er das Spielchen mitspielen. Genauso, wie es sein Vater gemacht hatte.
Ehefrau: Patricia Jennings Dirgrove
Kinder: Brandon, 9; Sonja, 7.
Süß.
Noch eine Überraschung: Dirgrove fuhr ein langweiliges Auto – einen fünf Jahre alten Buick. Jeremy hatte mit etwas Kostspieligerem gerechnet – etwas Schnittiges und Deutsches, wäre das nicht ein netter Tribut an Daddy gewesen?
Wieder einmal wurde offensichtlich, wie clever Dirgrove war: Wer würde den blaugrauen Wagen in der dunklen Gasse eines Slums bemerken?
Wenn man wusste, womit man es zu tun hatte, ergab alles einen Sinn.
Klarheit war eine berauschende Droge. Jeremy arbeitete den ganzen Tag, fuhr die ganze Nacht herum, lebte von seinen neuen Einsichten, redete sich ein, dass er wenig Essen und Schlaf brauchte.
Der Chirurg hielt sich an die Arbeitszeiten eines Chirurgen, fuhr oft vor sechs Uhr morgens ins Krankenhaus und kam erst nach Einbruch der Dunkelheit wieder nach Hause.
Am dritten Tag der Observierung führte Dirgrove seine Familie zum Abendessen aus, und Jeremy konnte Frau und Kinder in Augenschein nehmen, während sie in den Buick kletterten.
Patricia Jennings Dirgrove war klein und sah nett aus, eine Brünette mit einem lockigen, eher männlichen Haarschnitt. Gute Figur, sehr energisch, gelenkig. Entschlossen. Sie hatte einen schwarzen Mantel mit Pelzkragen an, der nicht zugeknöpft war. Jeremy sah eine rote Strickhose mit passendem Oberteil aufblitzen. Eine Stufe über Joggingklamotten. Bequemlichkeit hieß die Devise. Dirgrove trug nach wie vor Anzug und Krawatte.
Die Kinder ähnelten Patty – wie Jeremy sie im Stillen nannte – mehr als
Ted
. Brandon war stämmig mit einer Mähne dunkler Haare, die kleine Sonja war ein bisschen heller, besaß aber nichts von Dirgroves nordischem Knochenbau.
Um ihretwillen hoffte Jeremy, dass der Mangel an Ähnlichkeit mit ihrem Vater damit nicht aufhörte.
Süße Kinder. Er wusste, was ihnen bevorstand.
Er folgte ihnen zum Abendessen. Ted und Patty entschieden sich für einen Italiener mittlerer Preisklasse zehn Häuserblocks weiter südlich, wo man ihnen einen Tisch im vorderen Teil des Lokals zuwies, den man von der Straße durch ein mit aufwändigen Blattgoldbuchstaben dekoriertes Tafelglasfenster sehen konnte. Drinnen gab es Holzmöbel, eine Cappuccinobar und eine kupferne Espressomaschine.
Jeremy parkte um die Ecke und ging zu Fuß an dem Restaurant vorbei, verdeckte das Gesicht, in das er den kürzlich erstandenen schwarzen Schlapphut gezogen hatte, mit den Aufschlägen seines Regenmantels.
Er schlenderte an dem Fenster vorüber, die Augen durch die Hutkrempe
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