Der Pathologe
Dienstvorschriften, tat aber wenig dafür, die Dinge wieder ins Lot zu bringen.
Ehemänner wurden an ihrem Schreibtisch ermordet, ihre Mörder aber nie der gerechten Strafe zugeführt. Mutige und friedliche Männer wurden auf schmierigen Parkplätzen niedergeschossen, Vermögen wurden geraubt, ganze Familien – ganze Rassen – wurden ausgelöscht, und niemand musste dafür bezahlen.
Man konnte sich nicht darauf verlassen, dass andere die Dinge wieder in Ordnung brachten.
Arthur war sicher gewesen, dass Jeremy das verstehen würde, weil Jeremy es selbst durchgemacht hatte.
Wie er da in der Toilettenkabine saß, überkam ihn ein großer Friede.
Pathologie und Psychologie waren polare Gegensätze, aber das spielte keine Rolle. Was zählte, war das Martyrium.
Das Schwert des Krieges kommt auf die Welt, wenn die Gerechtigkeit ausbleibt.
Eine zweitausend Jahre alte Lektion der Väter, aber sie hätte zu keinem besseren Zeitpunkt erteilt werden können.
Ein Blick auf seine Uhr ließ ihn zusammenzucken.
Der zweifach geschlagene Doug Vilardi wartete auf ihn. Eine andere Form von Martyrium.
Wenigstens war dieser Schmerz etwas, mit dem umzugehen zu Jeremys Ausbildung gehörte.
Worte. Strategische Pausen, Augen voller Mitgefühl. Es
ernst
meinen.
Das war nicht genug. Nicht annähernd genug …
Hier komme ich, ihr Opfer dieser Welt. Gott helfe uns allen.
41
Doug sah aus wie ein Patient.
An seinen Chemo-Tropf gehängt, immer noch gut gelaunt und redselig, aber seine Gesichtsmuskeln waren schlaff geworden.
Seine Prothese steckte in einem Vinyl-Futteral und lag auf dem Boden.
Jeremy setzte sich, machte Smalltalk und versuchte, ihn auf das Thema Maurerhandwerk zu bringen. Doug wollte sich nicht ablenken lassen.
»Wissen Sie, was mich stört, Doc? Zwei Dinge. Erstens: Sie lassen andere Typen ihre Chemo zu Hause bekommen, aber mich wollen sie hier eingesperrt halten.«
»Haben Sie Dr. Ramirez danach gefragt?«
»Yeah. Meine Milz ist am Arsch. Sie müssen sie vielleicht rausnehmen.« Er grinste. »Ich darf nichts Schweres heben, sonst platze ich vielleicht und mache eine Riesenschweinerei.« Das Grinsen verschwand. »Und meine Leber ist auch nicht vom Feinsten. Sehen Sie?«
Er zog ein Lid herunter. Die Sklera war grünlich verfärbt.
»Heute kein Bier«, sagte Jeremy.
»Das ist wirklich schade … und wie geht’s Ihnen so?«
»Sie sagten, zwei Dinge würden Sie stören.«
»Ach, ja. Nummer zwei: Alle sind sie so verdammt nett zu mir. Da kriegt man ja eine Gänsehaut. Als ob alle denken, ich würde sterben oder so.«
»Ich kann eine Verordnung ausstellen, falls Sie das wollen«, sagte Jeremy. »›Alle sollen gefälligst unausstehlich zu Doug sein.‹«
Der junge Mann lachte. »Yeah, machen Sie das … Ihnen geht’s also gut, Doc?«
»Prima.«
»Sie sehen ein bisschen, weiß nicht, erschlagen aus. Nimmt man Sie zu hart ran?«
»Die alte Geschichte.«
»Yeah … nichts für ungut – der Spruch, dass Sie müde aussehen. Vielleicht liegt es an mir, vielleicht sehe ich nicht mehr richtig. Aber als ich Sie gestern nach all diesen Jahren wiedersah, dachte ich: ›Dieser Typ hat sich nicht verändert.‹ Es war genau wie damals, als ich Sie zum ersten Mal sah, ich war noch ein Junge, und Sie waren ein Erwachsener, und jetzt bin ich auch erwachsen, und Sie haben sich kaum verändert. Es ist, als ob … wird das Leben langsamer, wenn man älter wird? Läuft es so?«
»Schon möglich«, erwiderte Jeremy.
»Das hängt wohl davon ab, wie viel Spaß man hat«, sagte Doug.
»Was meinen Sie damit?«
»Sie wissen schon – was immer gesagt wird. Die Zeit vergeht im Fluge, wenn man sich amüsiert. Mein Leben war echt Spitze, zack zack zack. Ein Abenteuer jagt das nächste, an einem Tag ziehe ich Mauern hoch, und dann … und jetzt bekomme ich ein Baby.« Er warf einen Blick auf die mit einem Pflaster an seinem Handrücken befestigte Nadel. »Ich hoffe, sie beeilen sich damit, mich wieder gesund zu machen. Ich muss hier schnell wieder raus. Hab noch ’ne Menge vor.«
Als er allmählich einschlief, verließ Jeremy das Zimmer, vor dem er Dougs Eltern antraf. Er ging mit ihnen in die Cafeteria, wo er ihnen Kaffee und etwas zu essen holte. Sie protestierten schwach und dankten ihm überschwänglich. Die junge Marika sprach kaum. Sie war immer noch fassungslos und schaute Jeremy nicht in die Augen, wenn er sich um Blickkontakt bemühte.
Doug Vilardi sen. verbrachte die meiste Zeit damit, gute Laune zu demonstrieren.
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