Der Pathologe
Putzfrau, »das könn’ Sie nich’ machen.«
Jeremy begann den Inhalt des Eingangsfachs durchzublättern. Nichts, wofür er Verwendung hatte. Er wandte sich dem Ausgangsfach zu.
»Hey«, sagte die Frau.
Bevor sie weiter protestieren konnte, war er schon draußen. Seine Hand fest über seinem Fund zusammengedrückt.
Eine Subskriptionskarte für eine Zeitschrift –
The Nation
.
Graves hatte sich für ein weiteres Jahr entschieden. Auf der Karte war seine neue Privatadresse vorgedruckt.
Hale Boulevard.
Vier Häuserblocks südlich des Hochhauses, in dem sein Bruder einen auf Familienvater machte.
51
Jeremy wusste, was er vorfinden würde, wenn er vor dem Haus stand. Eine noch bessere Adresse als Dirgroves cremefarbenes Hochhaus.
Graves, der ultimative Nehmer.
Jetzt war Jeremy überzeugt, dass Dirgrove an Jocelyn interessiert gewesen war. Vielleicht hatte es als Flirt geendet. Oder Jocelyn hatte eine Affäre mit dem Chirurgen gehabt, bevor sie Jeremy kennen lernte.
Fast alles andere, was er Dirgrove zugeschrieben hatte, war falsch. Der Mann war ein Ehebrecher und Schürzenjäger, aber nicht mehr.
An der Konsultation im Fall Merilee Saunders war nichts Ruchloses. Entweder hatte Dirgrove sich ernsthafte Sorgen um die Reaktion seiner Patientin auf die Operation gemacht, oder er hatte versucht, Angela mit seiner Sensibilität zu beeindrucken.
Jedenfalls war an Merilees Tod nichts faul gewesen. Bevor er das Krankenhaus verließ, war Jeremy zurück ins Hauptgebäude geeilt und hatte sich in der medizinischen Bibliothek das Autopsieblatt der jungen Frau besorgt. Zerebrales Aneurysma. Ein verstecktes kleines Blutgefäß in ihrem Gehirn war geplatzt.
Wie Dirgrove gesagt hatte, eine dieser Sachen, die schon mal vorkommen.
Aber er hatte Jeremy aufgezogen … Sünden der Väter auf einer subtileren Ebene?
Aber das spielte jetzt keine Rolle. Augusto Graves war da ein ganz anderes Kaliber. Hatte die väterliche Begabung voll ausgeschöpft.
Sorgte dafür
, dass Dinge vorkamen.
Graves, der in Brasilien aufgewachsen war, war sich der Verbrechen seines Vaters und der Umstände seines Todes sehr wohl bewusst gewesen.
Besuche im Gefängnis. Er hatte gesehen, dass sein Vater wie eine berühmte Persönlichkeit behandelt wurde.
Nach Dergraavs Selbstmord hatte Graves’ Mutter den Jungen mit in die Vereinigten Staaten genommen.
Wo Graves sich prächtig entwickelte. Und weiter pervertierte.
Ein Mann, der seine höchste Erfüllung darin fand, etwas in seine Gewalt zu bekommen, das anderen gehörte.
Jocelyn war ausgewählt worden, weil Dirgrove sie haben wollte und Graves das herausgefunden hatte.
Graves hatte sich auch an Gwynn Hauser rangemacht. Sie hatte ihn abgewiesen. Nicht ihr Typ. Sie hatte geglaubt, sie hätte alles unter Kontrolle. Wie wenig sie wusste.
Angela. Dirgrove hatte einen raffinierten Plan ausgeheckt, um sie zu verführen.
Wusste Graves darüber Bescheid?
Falls ja …
Jeremy musste Angela informieren. Mit seiner Warnung vor Dirgrove hatte er sie verärgert.
Tut mir Leid, er ist keine Gefahr, aber …
Wie sollte er das anstellen, ohne dass sie glaubte, er wäre verrückt? Es klang völlig verrückt.
Jeremy fand darauf keine Antwort. Er piepste Angela trotzdem an. Die Worte würden sich schon einstellen, das taten sie doch immer.
Sie ging nicht ran.
Er versuchte es noch einmal.
Nichts.
Vielleicht steckte sie mitten in einer Behandlung. Er würde hoch in die Endokrinologie gehen, unter dem Vorwand, ihr mitzuteilen, dass er heute Abend keine Zeit habe. Dann würde er irgendwie die entsetzliche Wahrheit zur Sprache bringen.
Als er dort ankam, sagte eine schlecht gelaunte Schwester zu ihm: »Verraten
Sie
mir doch, wo sie steckt.«
»Was soll das heißen?«
»Sie hat uns versetzt. Ist verschwunden. Puff. Eine ganze Station voller Patienten, und sie marschiert einfach von dannen, ohne irgendjemandem Bescheid zu sagen. So was von unprofessionell. Ich hab den Chef informiert.«
Sie war immer noch am Motzen, als Jeremy sich umdrehte und zurück zu den Aufzügen rannte.
52
Ein schönes Haus.
Weiße Marmorfassade, mit Kupfer abgesetzte Art-déco-Ecken und eine kreisförmige Zufahrt, die großzügiger war als die vor Dirgroves Apartmenthaus. Eine Kupferfontäne – trompetende Engel – spritzte aus der Mitte der Zufahrt. Hohe Fichten umarmten die Ecken des Gebäudes.
Das Tivoli Arms. Fünf Stockwerke höher als Dirgroves Hochhaus.
Aber nur ein Portier. Und als er damit fertig war, einem
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