Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Pathologe

Der Pathologe

Titel: Der Pathologe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Kellerman
Vom Netzwerk:
sich selbst als »Continental« bezeichnete. Nachdem Angela ihre Vorliebe für die Hunan-Küche offenbart hatte, fand Jeremy ein in blaues Licht getauchtes chinesisches Restaurant, das gute Kritiken im
Clarion
bekommen hatte. Es kostete mehr, als er auszugeben gewohnt war, aber das Lächeln auf ihrem Gesicht war das Geld wert.
    Gutes Essen, ernste Unterhaltung, dann und wann ein flüchtiges Streifen von Fingerspitzen, sehr wenig, was als Flirten oder sexuelle Anspielung hätte interpretiert werden können.
    Mit Jocelyn war es ganz anders gewesen. Jeremy wusste, dass Vergleiche destruktiv waren, aber das war ihm egal. Vergleiche anzustellen lag einfach in der Natur der Sache, und er war sich nicht mal sicher, ob er überhaupt einen erneuten Versuch wagen wollte.
    Jocelyn war Sex und Parfum gewesen, das Parfum des Sex. Das verschlungene Duett der Zungen, ein feuchter Slip bei ihrem ersten Rendezvous, angehobene Hüften, ein moschusduftendes Delta das dargebotene Geschenk.
    Sein erstes Rendezvous mit Jocelyn war vor dem Dessert zu Ende gewesen. Die hektische Fahrt zu ihrer Wohnung, wo sie sich gegenseitig die Kleider vom Leib rissen. Jemand so Zierliches, aber so stark. Ihr kleiner, fester Körper war mit einer Kraft gegen Jeremys geknallt, die ihn erregte und ihn seine Knochen spüren ließ.
    Jocelyn hatte ihn immer außer Atem gebracht.
    Angela war höflich.
    Bei ihrem zweiten gemeinsamen Abendessen sagte sie: »Ich hoffe, das klingt nicht unhöflich, aber darf ich fragen, wie alt Sie sind?«
    »Zweiunddreißig.«
    »Sie sehen viel jünger aus.«
    Keine Schmeichelei, sondern die Wahrheit, und als solche auch vorgetragen.
    Jeremy hatte mit sechzehn wie zwölf ausgesehen und musste sich erst rasieren, als er aufs College kam. Er hatte die Zurückhaltung seiner Hormone gehasst, weil alle Mädchen, die er begehrte, ihn als Kind betrachteten.
    Mit dreißig hatte er eins dieser glatten, kantigen Gesichter, die sich weigern, älter zu werden. Seine Haare waren dünn und glatt, von unauffälliger hellbrauner Farbe, aber von kahlen Stellen oder grauen Strähnen war er bislang verschont geblieben. Er trug sie auf der rechten Seite gescheitelt, und wenn er sie nicht irgendwie bändigte, fielen sie ihm in die Stirn. Er hielt seinen Teint für bleich, aber Frauen hatten ihm gesagt, er hätte großartige Haut. Eine, eine Lyrikerin, hatte sich angewöhnt, ihn »Byron« zu nennen, und darauf bestanden, dass seine wenig bemerkenswerten braunen Augen äußerst intensiv waren.
    Er war mittelgroß, von mittlerem Gewicht, nicht muskulös, trug Schuhgröße 42, und seine Konfektionsgröße war 40.
    In seinen Augen ungefähr so durchschnittlich, wie man nur sein konnte.
    »Ich meine es ehrlich«, sagte Angela. »Sie sehen wirklich jung aus. Ich dachte mir, dass Sie so alt sein müssen, weil Sie mir gesagt haben, dass Sie seit sieben Jahren am Central arbeiten. Aber Sie könnten leicht in meinem Alter sein oder sogar noch jünger.«
    »Und das wäre?«
    »Raten Sie.«
    »Zwei Jahre nach dem Staatsexamen bedeutet achtundzwanzig.«
    »Siebenundzwanzig. Ich hab die dritte Klasse übersprungen.«
    Das gleiche Alter wie Jocelyn. »Das überrascht mich nicht«, sagte er.
    »Ich war nur eine frühreife Göre«, erwiderte Angela und fing an, über die Härten der Assistenzzeit zu reden.
    Jeremy hörte zu. Man konnte nie wissen, wann sich die Berufsausbildung als nützlich erweisen würde.
    Das am ersten Abend begonnene Verabschiedungsmuster setzte sich fort: Angela bis zu ihrer Tür zu begleiten, das Schweigen, das Lächeln, die ausgestreckte Hand.
    Dann: ein fester, defensiver Kuss auf die Wange und ihre – ein wenig zu emphatisch vorgebrachte – Behauptung, es hätte ihr sehr gefallen.
    Jeremy begann sich zu fragen, was sie wollte.
    Nach ihrem fünften gemeinsamen Abendessen lud sie ihn in ihre extrem ordentliche, aber schäbig eingerichtete Wohnung ein, ließ ihn auf einem gebraucht gekauften Sofa Platz nehmen, das noch immer nach Desinfektionsmittel roch, goss ihnen beiden Wein ein, entschuldigte sich und verschwand im Badezimmer.
    Jeremy sah sich um. Angela hatte ein gutes Auge. Jedes einzelne Teil war billig, voller Gebrauchsspuren und offenkundig provisorisch. Eine traurige Pflanze rang auf einer angeschlagenen Fensterbank um ihr Leben. Und dennoch wirkte das Ensemble angenehm.
    Trotzdem fragte er sich: beide Eltern Ärzte. Bestimmt hätte sie sich etwas Besseres leisten können.
    Als sie aus dem Badezimmer kam, trug sie einen langen

Weitere Kostenlose Bücher