Der Pathologe
goldenen
fleur-de-lis
getüpfelt war.
»Ich habe mich gefragt«, sagte er, »und bitte halten Sie mich nicht für dreist – ich habe mich gefragt, ob Sie vielleicht Lust hätten, mit mir an diesem Freitag zu Abend zu essen. Es kommen ein paar Leute, interessante Leute, mit denen ich Sie gern bekannt machen würde. Die kennen zu lernen, wie ich mir zu unterstellen erlaube, Ihnen Vergnügen bereiten dürfte.«
»Freunde von Ihnen?«
»Eine Gruppe … sozusagen.« Die für gewöhnlich flüssige Rede des alten Mannes war ins Stocken geraten. Arthur Chess – verlegen?
Vielleicht um das zu vertuschen, lächelte er. »Wir treffen uns von Zeit zu Zeit, um über Themen von wechselseitigem Interesse zu diskutieren.«
»Medizinische Themen?«, fragte Jeremy. Dann erinnerte er sich an Arthurs hartnäckige Neugier, was »sehr schlimmes Verhalten« betraf. War all das ein Vorspiel hierfür gewesen?
»Eine große Bandbreite von Themen«, sagte Arthur. »Wir streben nach Gelehrsamkeit, aber nichts Hochgestochenes, Jeremy. Die Gesellschaft ist liebenswürdig, das Essen gut zubereitet – wirklich recht schmackhaft –, und wir schenken einige gute Spirituosen aus. Wir essen spät. Obwohl ich nicht glaube, dass das für Sie ein Problem darstellt.«
Wie konnte Arthur von seiner Schlaflosigkeit wissen? »Wie meinen Sie das?«
»Sie sind ein energiegeladener junger Mann.« Eine der großen Hände des Pathologen schlug auf den Tisch. »Also. Kommen Sie?«
»Tut mir Leid«, sagte Jeremy. »Freitag ist schlecht.« Er brauchte nicht zu lügen. Angelas Bereitschaftsdienst endete Donnerstagabend. Sie hatten sich noch nicht für Freitag verabredet, aber es gab keinen Grund, warum sie ihm einen Korb geben sollte.
»Ich verstehe. Gut, dann eben ein anderes Mal.« Arthur stand auf. »Wenigstens hab ich’s versucht. Ich wollte Sie nicht in Verlegenheit bringen. Falls Sie Ihre Meinung ändern, lassen Sie es mich bitte wissen.« Er legte eine Hand auf Jeremys Schulter. Schwer; Jeremy wurde bewusst, wie massig und kräftig der Pathologe war.
»Mach ich. Vielen Dank, dass Sie an mich gedacht haben, Arthur.«
»Ich habe
genau
an Sie gedacht.« Arthurs Hand verweilte auf Jeremys Schulter. Jeremy bekam den Geruch von Bayrum und starkem Tee und etwas Beißendem in die Nase, möglicherweise Formaldehyd.
»Ich fühle mich geschmeichelt«, erwiderte Jeremy.
»Bedenken Sie Folgendes«, sagte Arthur. »In Zeiten großer Verstörung kann ein gutes, spätes Abendessen äußerst stärkend sein.«
»Verstörung?«, sagte Jeremy.
Aber der alte Mann hatte sich bereits umgedreht und war gegangen.
Zurück in seinem Büro, gelang es ihm nicht, irgendein Bild mit Angela heraufzubeschwören, keins aus der Vergangenheit und keins aus der Zukunft.
Das Wort fuhrwerkte in seinem Kopf herum:
Verstörung.
Nicht meine; die der Stadt. Der Welt.
Meine.
Der alte Mistkerl hatte Recht. Wie ließ sich eine Zeit besser beschreiben, in der Frauen verfolgt und gejagt und zur Strecke gebracht wurden wie Beutetiere, nur weil sie Frauen waren. In der Männer mit niedrigem Ruhepuls ihre Opfer mit der Sorgfalt von Supermarktkunden aussuchten, die an Melonen herumdrücken.
Männer, die sich nach Blutdunst und schreckerfüllten Augen, nach der Konfiszierung von Körpersaft, der ultimativen Macht sehnten.
Monster-Männer, die all das
brauchten
, um ihr
eigenes
Blut in Wallung zu bringen.
Verstörung
war die perfekte Beschreibung einer Welt, in der Jocelyns Tod sie zu einem Mitglied derselben Gruppe von Frauen machte, zu der auch Tyrene Mazursky gehörte.
Er war nicht in der Lage gewesen, Angela vor seinem inneren Auge heraufzubeschwören, aber nun tauchte statt- dessen Jocelyns Gesicht auf. Ihr Lachen, selbst nach seinen lahmsten Witzen, die Art, wie sie sich um ihre hoffnungslosen Patienten kümmerte. Ihr Elfengesicht, wenn es rot wurde und sich zusammenzog in lustvoller Verzückung.
Wenn es wirklich toll für sie gewesen war, breitete sich die Röte von ihrer Hüfte bis zu ihrem Kinn aus.
Dann ein anders geartetes Gesicht. Ebenfalls zusammengezogen. Keine Verzückung.
Übelkeit verkrampfte Jeremys Magen. Er fühlte das Bedürfnis, sich zu übergeben, schnappte sich seinen Papierkorb und steckte sein Gesicht hinein. Alles, was kam, war ein trockenes Würgen. Er saß gebeugt da, den Papierkorb zwischen den Beinen, den Kopf zwischen den Händen, schwitzte und atmete keuchend.
Monster-Männer, die menschliche Schlacke schufen. Und dann formten andere Männer –
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