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Der Pathologe

Der Pathologe

Titel: Der Pathologe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Kellerman
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knisterte, Regentropfen sprühten zu Boden.
    Der Sensenmann geht fischen,
dachte Jeremy.
    Dann:
Was nimmt er wohl als Köder?
    Das Innere von Arthurs Lincoln war warm und wohlriechend und mit einem taubengrauen Filz gepolstert, den Jeremy bislang nur in sehr viel älteren Wagen gesehen hatte. Der Motor sprang mit einem Schnurren an, und Arthur setzte sanft zurück. Als sie den Parkplatz verlassen hatten, richtete Arthur sich auf, die Hände leicht auf dem Lenkrad liegend, während seine Augen zwischen der Windschutzscheibe und dem Rückspiegel hin und her wanderten.
    Er war aufmerksam, aber das tröstete Jeremy herzlich wenig. Das Unwetter hatte die Sichtweite auf wenige Meter reduziert. Soweit er es beurteilen konnte, bewegte sich Arthur blind vorwärts.
    Der alte Mann fuhr zunächst in Richtung Innenstadt, aber kurz vor dem hohen Glitzern in einiger Entfernung, das von den Wolkenkratzern stammte, bog er links ab. Jeremy versuchte zu verfolgen, welchen Weg Arthur nahm, aber er gab rasch auf.
    Nach Osten, nach Norden, wieder nach Osten. Dann eine Reihe rascher Richtungsänderungen, die Jeremy völlig verwirrten.
    Arthur summte beim Fahren.
    Wenn Rücklichter vor ihm aufflackerten, schien der alte Mann sie als Navigationshilfen zu benutzen. Wenn Dunkelheit vorherrschte und die Windschutzscheibe ein matt- schwarzes Rechteck war, schien er sich in seiner Haut genauso wohl zu fühlen.
    Regentropfen schlugen auf das Dach des Lincoln wie bei dem hektischen Konzert einer Steelband. Arthur schien das nicht zu kümmern, er summte weiter vor sich hin. Er war entspannt – mehr als das, er schien die unmöglichen äußeren Bedingungen zu
genießen
. Als ob der Lincoln auf Schienen gesetzt worden und die Fahrt keine größere Herausforderung sei als die in einem Autoskooter.
    Jeremy blickte sich um. Soweit er es in der Dunkelheit sehen konnte, war der Lincoln makellos. Auf dem Rücksitz befand sich nichts. Bevor sie losgefahren waren, hatte Arthur den Kofferraumdeckel geöffnet, unter dem frisch gesaugte graue Teppichverkleidung, ein Erste-Hilfe-Kasten und zwei an die Rückwand geschnallte Regenschirme zum Vorschein kamen. Er hatte Jeremys Aktentasche neben den Kasten gelegt und den Kofferraum vorsichtig geschlossen.
    Summ, summ, summ.
    Jeremy spürte, wie er langsam einnickte. Als er mit einem Ruck wieder wach wurde, schaute er auf die Uhr. Er hatte etwas mehr als eine Viertelstunde geschlafen.
    »Guten Abend«, sagte Arthur freundlich.
    Der Regen hatte noch zugenommen. »In welchem Teil der Stadt sind wir?«, fragte Jeremy.
    »In Seagate.«
    »Am Hafen?«
    »Mein liebster Stadtteil«, sagte Arthur. »Die Vitalität, die Anregung für die Sinne. Die arbeitenden Menschen.«
    »Die arbeitenden Menschen.«
    »Das Rückgrat jeder Zivilisation.« Kurze Zeit später: »Ich stamme von einer langen Reihe solcher Menschen ab – in der Hauptsache Farmer. Wo sind Sie aufgewachsen, Jeremy?«
    »Im Mittleren Westen. Nicht hier in der Gegend, aber nicht weit entfernt.« Jeremy nannte den Namen seiner Heimatstadt.
    »Dort wird vor allem Handel getrieben«, sagte Arthur. »Irgendwelche Farmer in Ihrer Familie?«
    »Seit Generationen nicht«, antwortete Jeremy.
    »Eine Farm kann ein lehrreicher Ort sein. Man lernt eine Menge über Zyklen. Das Leben, den Tod, alles, was dazwischen liegt. Und natürlich die Vergänglichkeit von allem – eine meiner schönsten Erinnerungen ist, wie ich bei der Geburt eines Kalbes geholfen habe. Eine ziemlich blutige Angelegenheit. Ich war sieben und hatte schreckliche Angst, ich könnte von einer großen Flut Rinderbrühe weggeschwemmt werden. Mein Vater bestand auf meiner Anwesenheit.«
    »Hat Sie das inspiriert, Arzt zu werden?«
    »Oh, nein«, sagte Arthur. »Falls überhaupt, dann das Gegenteil.«
    »Inwiefern?«
    Arthur drehte sich halb zu ihm und lächelte. »Die Kuh hat alles allein gemacht, mein Sohn. Ich kam mir ziemlich überflüssig vor.«
    »Aber Sie sind trotzdem Arzt geworden.«
    Arthur nickte. »Jetzt ist es nicht mehr weit.«

14
    Die Gerüche, die ihn umgaben – Fisch, Diesel, Rost und Kreosot –, verrieten Jeremy, dass der Hafen nicht weit war. Aber es war kein Wasser in Sicht, nur reihenweise gedrungene fensterlose Gebäude ohne jeden architektonischen Schnickschnack.
    Arthur Chess war in eine bedrückend enge Straße gefahren, die anscheinend von Lagerhäusern gesäumt war. Der Regen hatte das Straßenpflaster in Gelatine verwandelt; die Scheinwerfer des Lincoln waren klägliche, gelbe

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