Der Pathologe
zurück zum Büro der Pathologie am entgegengesetzten Ende und um eine Ecke.
Eine pummelige Frau Mitte vierzig hielt Wache.
»Hallo«, sagte sie. »Kann ich Ihnen helfen, Doktor?«
»Ich suche nach Dr. Chess.«
»Er ist nicht da.«
»Geht es ihm gut?«
»Warum sollte es ihm nicht gut gehen?«
»Ach, nur so«, erwiderte Jeremy. »Er war nicht bei der Tumor-Kommission, und meines Wissens hat er bisher keine Sitzung verpasst.«
»Nun ja«, sagte sie, »es geht ihm so gut wie nur möglich. Ich glaube, er hat sich ein paar Tage freigenommen.«
»Urlaub?«
»Darum handelt es sich nicht«, sagte die Empfangssekretärin. Als sie Jeremys verwunderten Blick sah, musste sie lächeln. »Sie kennen ihn nicht gut, nicht wahr? Wie lange nehmen Sie schon an den Sitzungen teil?«
»Seit einem Jahr.«
»Ah«, sagte sie. »Nun ja, Dr. Chess arbeitet eigentlich nicht mehr hier. Jedenfalls nicht offiziell.« Sie legte eine Hand neben ihren Mund und flüsterte: »Er wird nicht bezahlt.«
»Er arbeitet hier auf freiwilliger Basis?«, fragte Jeremy.
»So könnte man es nennen, aber das beschreibt es nicht annähernd.« Sie sprach sogar noch leiser und nötigte Jeremy, sich näher zu ihr zu beugen. »Er macht weder Autopsien, noch analysiert er irgendwelche Proben. Er macht überhaupt nicht mehr viel, von der Tumor-Kommission abgesehen. Aber er ist so ein brillanter Mann, hat so viel für dieses Krankenhaus getan, dass man ihm weiterhin gestattet, sein Büro zu benutzen und alle Forschungen zu betreiben, die er betreiben möchte. Es ist kein Geheimnis, aber wir hängen es auch nicht an die große Glocke. Um seinetwillen. Er ist kein Ballast oder so etwas. Wegen seines Rufs ist er ein großer Gewinn für uns. Sie müssen nämlich wissen, dass er diese Abteilung zu dem gemacht hat, was sie heute ist.«
Ihre Stimme war lauter geworden. Indigniert. Fürsorglich.
»Er ist brillant«, pflichtete Jeremy ihr bei, und das schien sie zu besänftigen.
»Aus diesem Grund reden wir nicht über seinen … Beschäftigungsstatus. Für uns
ist
er ein Mitglied der Abteilung und hier jederzeit willkommen. Und dass er die Tumor-Kommission leitet, ist eine große Hilfe. Jeder sagt, dass er ein enzyklopädisches Gedächtnis hat. Und er ist natürlich verfügbar, wenn die jüngeren Pathologen Fragen an ihn haben. Was häufig der Fall ist. Sie haben gewaltigen Respekt vor ihm, das geht allen so. Er ist eine Autorität auf seinem Gebiet.«
»Ja, das ist er«, erwiderte Jeremy. »Also … wollen Sie sagen, er hat einfach beschlossen, nicht zu kommen.«
»Das wäre nicht das erste Mal. Warum all diese Fragen, Dr. Carrier?«
»Dr. Chess und ich haben vor zwei Tagen zusammen zu Abend gegessen. Er machte einen etwas … wackeligen Eindruck.«
Die Empfangssekretärin bedeckte den Mund mit der Hand. »Ach, du meine Güte. Ich hoffe doch, dass es ihm gut geht.«
»Ich habe vermutlich etwas übertrieben. Er schien bloß ein bisschen müde zu sein. Weniger energiegeladen, als wir es von ihm gewohnt sind. Das ist der Grund, weshalb ich ein wenig besorgt war, als er heute Morgen nicht zur Sitzung der Tumor-Kommission erschien.«
»Wer hatte heute den Vorsitz?«
»Dr. Singh.«
»Ich rufe ihn an.« Sie tippte die Nummer in ihr Telefon. »Dr. Singh? Hier ist Emily, entschuldigen Sie bitte die Störung, aber Dr. Carrier steht hier vor mir und fragt nach Dr. Chess … Carrier. Von …« Sie studierte Jeremys Ausweis. »Von der Psychiatrie. Er hat vorgestern mit Dr. Chess zu Abend gegessen und hatte den Eindruck, Dr. Chess hätte ein bisschen müde ausgesehen. Er möchte sichergehen, dass mit Dr. Chess alles in Ordnung ist … wie bitte? Alles klar, ich sage es ihm. Vielen Dank, Dr. Singh.«
Sie legte das Telefon wieder auf die Basisstation. »Dr. Singh sagt, Dr. Chess hätte ihn gestern Abend angerufen, um ihn davon zu unterrichten, dass er ein paar Tage freinehmen und es nicht zur Tumor-Kommission schaffen würde. Dr. Singh meint, er hätte sich prima angehört.«
»Großartig, das ist gut zu wissen. Vielen Dank.« Jeremy wandte sich ab, um zu gehen.
»Es ist so schön«, sagte sie. »Wie er das hinkriegt.«
»Was hinkriegt?«
»Dr. Chess. Wie er die Leute dazu bringt, sich Gedanken um ihn zu machen. So ein lieber Mann.«
Ihr Telefon klingelte, und sie ging ran und kam mit jemandem namens Janine ins Gespräch, die gerade ein Baby bekommen hatte, und war das nicht toll, und sie war sicher, dass es süß war, einfach obersüß, und wann sie mit dem
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