Der Patient
Verzicht auf einen Gottesdienst zu seinen Ehren auf Rumpelstilzchens und Virgils Kampagne um seine angeblichen sexuellen Verfehlungen zurückzuführen war. Keiner seiner Kollegen in Manhattan wollte, dass Rickys angeschlagener Ruf auf sie selbst abfärbte, indem sie einer solchen Feierlichkeit beiwohnten. Es war wohl anzunehmen, dass eine große Zahl von Kollegen in der Metropole die Nachricht von seinem Tod als den schlagenden Beweis für die Richtigkeit der Anschuldigungen gegen ihn deuteten und diese Wendung, die der Fall genommen hatte, nur begrüßten, da dem Berufsstand somit der peinliche Moment erspart blieb, in dem die Beschuldigungen in der
New York Times
ausgebreitet wurden, was früher oder später unvermeidlich gewesen wäre.
Er fragte sich, ob er bis zu diesem denkwürdigen ersten Ferientag ebenso blind gewesen war.
Beide Zeitungen berichteten, er sei offenbar durch Ertrinken gestorben und die Einheiten der Küstenwache am Cape suchten das Wasser nach Rickys Leiche ab. Dabei zitierte die
Cape Cod Times
zu Rickys großer Erleichterung den örtlichen Einsatzleiter mit dem Hinweis, bei den heftigen Strömungen in der Gegend des Hawthorne Beach sei es äußerst unwahrscheinlich, dass Rickys Leichnam je geborgen würde.
Bei genauerer Betrachtung kam Ricky zu dem Schluss, dass er für eine so kurze Vorbereitungszeit einen recht passablen Tod zuwege gebracht hatte.
Er hoffte, dass sämtliche Fährten, die er zu seinem Selbstmord gelegt hatte, von dem Rezept für die Überdosis, die er scheinbarvor seinem Gang in die Wellen genommen hatte, bis hin zu seiner unvergesslich und untypisch rüden Art gegenüber dem jungen Verkäufer im Depot für Marinebestände verfolgt worden waren. Genug, um die örtliche Polizei auch ohne eine Leiche für die Autopsie zufrieden zu stellen. Und hoffentlich auch genug, um Rumpelstilzchen davon zu überzeugen, dass seine Rechnung bezüglich Ricky aufgegangen war.
Die absurde Situation, vom eigenen Selbstmord in der Zeitung zu lesen, löste einen Aufruhr bei ihm aus, mit dem er nur schwer zurande kam. Die Plackerei und der Stress der letzten fünfzehn Tage bis zu seinem Freitod, von dem Moment an, als Rumpelstilzchen sein Leben kreuzte, bis zu dem Augenblick, als er ans Wasser trat und saubere Fußabdrücke im glatt gespülten Sand hinterließ, hatten Ricky durch eine Tour de Force der Gefühle gejagt, die in keinem psychiatrischen Lehrbuch auch nur angedacht war.
Angst, Hochstimmung, Verwirrung, Erleichterung – ein Wechselbad der Emotionen – hatten ihn überflutet, als er die ersten Schritte in die Brandung machte, das Wasser ihm um die Zehen spülte und er die Handvoll Pillen in die Wogen warf, sich zur Seite drehte und hundert Meter durchs kalte, seichte Wasser lief, weit genug, damit die neue Fußspur, die er hinterließ, als er wieder auf trockenen Boden trat, weder für die Polizei noch sonst jemanden, der den Ort seines Verschwindens untersuchte, zu sehen war.
Die Stunden danach, in denen er allein in der Kochnische gesessen hatte, waren für Ricky ein einziger Albtraum gewesen, der in allen Einzelheiten haften blieb wie bei einem echten Traum, der ebenso lange nach dem Erwachen dieses Unbehagen hinterlässt. Ricky hatte vor Augen, wie er sich auf dem Kliff die bereitgelegten frischen Kleider anzog und in panischer Hektik in die Laufschuhe schlüpfte, um unbemerktvom Strand zu entkommen. Er hatte die Krücken am Rucksack festgeschnallt und über die Schultern geschlungen. Bis zum Parkplatz des Lobster Shanty waren es sechs Meilen, und er wusste, dass er vor dem Morgengrauen, bevor irgendjemand sonst eintraf, der den Sechs-Uhr-Express nach Boston erwischen wollte, dort sein musste.
Ricky spürte immer noch, wie ihm der Wind in den Lungen brannte, als er die Strecke lief. Es herrschte immer noch Nacht, und er atmete schwarze Luft, und während seine Füße auf dem Teerweg stampften, kam es ihm so vor, als ob er durch eine Kohlenzeche rannte. Ein einziges Augenpaar, das ihn bemerkte, konnte seine geringen Überlebenschancen, an die er sich klammerte, zunichte machen, und der Gedanke trieb ihn bei jedem Schritt an.
Bei seiner Ankunft war der Platz leer gewesen, und er hatte sich in den tiefen Schatten an der Ecke des Restaurants zurückgezogen. Dort hatte er die Krücken vom Rucksack geschnallt und die Arme hineingeschmiegt. Nur wenig später hatten von ferne Sirenen geheult. Es war eine gewisse Befriedigung für ihn gewesen, wie lange es gedauert hatte, bis jemand
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