Der Patient
bemerkte, dass sein Haus abgebrannt war. Ein paar Minuten danach waren die ersten Autos auf dem Parkplatz eingetroffen und hatten Leute abgesetzt, die auf den Bus warteten. Es war eine zusammengewürfelte Schar, zumeist junge Leute, die in ihre Büros in Boston zurückwollten, und ein paar Geschäftsleute im mittleren Alter, die trotz aller praktischen Erwägungen von der Aussicht auf die Busfahrt nicht begeistert schienen. Ricky hatte sich weiter im Hintergrund gehalten, da er wohl der Einzige war, der an diesem feuchtkalten Morgen auf dem Cape vor Angst und Erschöpfung Blut und Wasser schwitzte. Als der Bus mit zwei Minuten Verspätung kam, hatte Ricky sich auf Krücken in die Warteschlange gestellt.
Zwei junge Männer hatten Platz gemacht, bis er sich die Stufen hinauf gekämpft und dem Fahrer den am Vortag gekauften Fahrschein vorgezeigt hatte. Dann hatte er sich nach hinten gesetzt und noch einmal überlegt: Für den Fall, dass Virgil oder Merlin oder sonst jemand, den Rumpelstilzchen beauftragt hatte, der Wahrheit auf den Grund zu gehen und seinen Selbstmord unter die Lupe zu nehmen, den Busfahrer oder Mitreisende befragen sollte, würden sich alle bestenfalls an einen Mann mit schwarzem Haar und auf Krücken erinnern, von dem wohl kaum jemand glaubte, dass er im Eiltempo zur Haltestelle gelaufen war.
Er war mit einer Stunde Verspätung angekommen, bevor er den Anschlussbus nach Durham nehmen konnte. In dieser Zeit war er zwei Häuserblocks vom South-Street-Busbahnhof weggelaufen, bis er vor einem Bürogebäude einen Container fand. Er hatte die Krücken hineingeworfen und war zur Station zurückgekehrt, um in einen anderen Bus zu steigen.
Durham, dachte er, hatte noch einen weiteren Vorzug: Er war noch nie im Leben dagewesen, kannte auch niemanden, der jemals dort gewohnt hatte, und hatte auch sonst nicht den geringsten Bezug zu dieser Stadt. Was ihm auf Anhieb gefiel, waren die neuen Nummernschilder in New Hampshire, mit dem Wahlspruch des Bundesstaates darauf: Lebe in Freiheit oder stirb. Dies fasste, wie er fand, seinen eigenen Wahlspruch zusammen.
Bin ich entkommen?, fragte er sich.
Er glaubte schon, doch sicher war er sich nicht.
Ricky trat ans Fenster und starrte wieder ins Dunkel der unbekannten Umgebung. Es gibt eine Menge zu tun, sagte er sich. Während er immer noch das schwarze Einerlei jenseits des Motelzimmers absuchte, erkannte Ricky so eben sein eigenes Spiegelbild im Glas. Dr. Frederick Starks existiert nichtmehr, sagte er sich. Jemand anders lebt an seiner Stelle. Er atmete schwer ein und begriff, dass seine erste Aufgabe darin bestand, sich eine neue Identität zu verschaffen. War das erst einmal geschafft, konnte er sich für den kommenden Winter eine dauerhafte Bleibe suchen. Er wusste, dass er Arbeit finden musste, um das Geld, das ihm geblieben war, aufzubessern. Er musste sein Verschwinden absichern und seine Anonymität zementieren.
Ricky starrte auf den Tisch seitlich von ihm. Er hatte den für Rumpelstilzchens Mutter ausgestellten Totenschein behalten, ebenso den Polizeibericht über den Mord an ihrem verflossenen Liebhaber und die Kopie der Akte aus seinem halben Jahr in der Klinik des Columbia Presbyterian, wo die Frau sich um Hilfe an ihn gewandt und er sie im Stich gelassen hatte. Er stellte fest, dass er für eine einzige Nachlässigkeit einen hohen Preis gezahlt hatte.
Er hatte bezahlt, und es gab kein Zurück.
Allerdings, dachte Ricky und merkte, wie sein Herz dabei kalt wie Eisen wurde, habe ich jetzt ebenfalls eine Schuld einzutreiben.
Ich werde ihn finden, dachte er trotzig. Und dann mache ich mit ihm, was er mit mir getan hat.
Ricky stand auf und ging zur Wand, um den Lichtschalter zu betätigen, so dass der Raum im Dunkel lag. Gelegentlich huschte von draußen ein Scheinwerferlicht über die Wände. Er legte sich aufs Bett, das unfreundlich unter ihm quietschte.
Ich habe einmal mit Eifer studiert, um Leben zu retten.
Jetzt muss ich mir beibringen, wie man es jemandem nimmt.
Ricky war erstaunt, wie diszipliniert er seine Gedanken und Gefühle ordnete. Die Psychoanalyse, der Berufszweig, den er soeben hinter sich gelassen hatte, ist vielleicht die kreativsteSparte der Medizin, eben wegen der wandelbaren Natur der menschlichen Persönlichkeit. Während es in dieser Sparte der Heilkunde definierbare Krankheiten und bewährte Behandlungsverfahren gibt, verlangt doch jeder Fall nach einem individuellen Zugang, da es keine zwei Formen von Traurigkeit gibt, die
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