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Der Patient

Titel: Der Patient Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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Kind?«
    Sie schüttelte den Kopf und grinste ein wenig. »Wenn das keine schmeichelhafte Frage ist. Er ist mein Enkel. Meine Tochter ist in der Ausbildung. Geschieden, macht ihren Buchhalterabschluss. Ich hüte den Jungen, während sie arbeitet oder lernt, also fast die ganze Zeit.«
    Ricky nickte. »Ich lebe ziemlich zurückgezogen. Ich hab mehrere Jobs, das kostet einiges an Zeit. Und wenn ich frei habe, studiere ich.«
    »Sie sind alt für einen Studenten. Vielleicht ein bisschen zu alt.«
    »Wir sind nie zu alt, um dazuzulernen, oder?«
    Wieder schmunzelte die Frau, immer noch sah sie Ricky misstrauisch an.
    »Sind Sie gefährlich, Mr. Lively? Oder laufen Sie vor etwas weg?«
    Ricky überlegte einen Moment, bevor er etwas sagte. »Jetzt laufe ich nicht mehr weg, Mrs. …«
    »Williams. Janet. Der Junge heißt Evan, und meine Tochter, die Sie ja noch nicht kennen gelernt haben, heißt Andrea.«
    »Nun ja, hier möchte ich mit dem Weglaufen aufhören, Mrs. Williams. Ich bin nicht auf der Flucht, weil ich ein Verbrechen begangen hätte, auch nicht vor meiner Exfrau und ihrem Anwalt oder vor einem rechten christlichen Kult, wenngleich Ihre Phantasie in eine dieser Richtungen gehen mag, oder auch in alle diese Richtungen zugleich. Und ob ich gefährlich bin? Also, jemand der gefährlich ist, glauben Sie, der rennt davon?«
    »Da ist was dran«, sagte Mrs. Williams. »Sehen Sie, es ist mein Haus, und wir sind zwei alleinstehende Frauen mit einem Kind …«
    »Ihre Bedenken sind wohl begründet. Ich nehme Ihnen die Frage nicht übel.«
    »Ich weiß allerdings nicht, was ich Ihnen von dem, was Sie gesagt haben, glauben soll«, erwiderte Mrs. Williams.
    »Ist es denn gar so wichtig, dass Sie mir glauben, Mrs. Williams? Würde es einen Unterschied ausmachen, wenn ich Ihnen sagen würde, ich wäre ein Alien von einem anderen Planeten, das hierher geschickt wurde, um die Lebensgewohnheiten der Bewohner von Durham, New Hampshire, auszuspionieren, bevor wir die Welt erobern? Oder wenn ich sagen würde, ich wäre ein russischer Agent, oder arabischer Terrorist, dem FBI immer eine Nasenlänge voraus, und ob ich wohl das Badezimmer benutzen darf, um darin Bomben zu basteln? Man kann sich alle möglichen Geschichten einfallen lassen, doch letztlich ist keine von Belang.
    Für Sie zählt doch nur, ob ich ruhig bin, für mich bleibe, pünktlich meine Miete zahle und überhaupt Ihnen und Ihrer Tochter oder Ihrem Enkel keine Scherereien mache. Ist das nicht entscheidend?«
    Mrs. Williams lächelte. »Ich denke, Sie sind mir sympathisch, Mr. Lively. Das heißt nicht, dass ich Ihnen schon allzu sehr traue, und schon gar nicht, dass ich Ihnen glaube. Aber es gefällt mir, wie Sie die Dinge sehen, das heißt, Sie haben den ersten Test bestanden. Wie wär’s mit einer einmonatigen Kaution und einer Miete im voraus, und dann sehen wir einfach von Monat zu Monat weiter, so dass wir für den Fall, dass einer von uns Probleme sieht, schnell einen Schlussstrich ziehen können?«
    Ricky lächelte und nahm die Hand der alten Frau. «Meiner Erfahrung nach«, sagte er, »kann man einen Schlussstrich selten schnell ziehen. Und wie definieren Sie ›Probleme‹?«
    Das Grinsen im Gesicht der älteren Frau wurde noch ein wenig breiter, und sie ließ Rickys Hand nicht los. »Probleme definiere ich als die Zahl neun, eins, eins, die ich in die Tastatur des Telefons eintippe, und dann als eine beliebige Zahl von unangenehm direkten Fragen von Männern in blauer Uniform, die keinen Spaß verstehen. Habe ich mich deutlich ausgedrückt?«
    »Ganz und gar, Mrs. Williams«, sagte Ricky. »Ich denke, wir sind uns einig.«
    »Dachte ich mir«, erwiderte Mrs. Williams.
     
    Die Routine hielt ebenso schnell in Rickys Leben Einzug wie der Herbst in New Hampshire.
    Im Lebensmittelladen bekam er schon bald eine Gehaltserhöhung und zusätzliche Pflichten übertragen, auch wenn der Filialleiter ihn fragte, wieso er ihn noch in keinem der Selbsthilfetreffengesehen hatte, und so ging Ricky zu einigen hin und erhob sich vor einem Raum voller Alkoholiker, um eine typische Geschichte darüber vom Stapel zu lassen, wie der Suff sein Leben verpfuscht habe, worauf er spontan zustimmendes Gemurmel von Männern und Frauen erntete, gefolgt von gerührten Umarmungen, in denen sich Ricky ziemlich scheinheilig fühlte.
    Er mochte seinen Job im Lebensmittelladen, und sein Verhältnis zu den Kollegen war gut, wenn auch vielleicht nicht überschwänglich. Er verbrachte die eine

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