Der Patient
oder andere Mittagspause mit ihnen, scherzte ein bisschen und pflegte einen freundlichen Umgang, der seine Einsamkeit wirkungsvoll kaschierte. Er schien ein Händchen für Lagerbestände zu haben, was ihn auf den Gedanken brachte, dass sich die Aufgabe, Regale mit Lebensmitteln zu füllen, gar nicht einmal allzu sehr von dem unterschied, was er für seine Patienten getan hatte. Auch sie mussten sich ihre Regale wieder auffüllen und in Ordnung bringen lassen.
Einen wahren Volltreffer landete er Mitte Oktober, als er eine Anzeige für einen Aushilfsjob beim Hausmeisterpersonal der Universität entdeckte. Er kündigte seine Kassiererstelle im Molkereigeschäft und verbrachte täglich vier Stunden in den naturwissenschaftlichen Labors mit Kehren und Schrubben. Dabei ging er mit einer Zielstrebigkeit an seine Arbeit, die seinen Vorgesetzten beeindruckte. Doch was viel wichtiger war: Die Stelle verschaffte ihm eine Uniform, einen Spind sowie einen Universitätsausweis und dadurch wiederum Zugang zum Computersystem. Und so ging Ricky daran, sich zwischen örtlicher Bücherei und dem Computerpool eine neue Welt zu schaffen.
Er gab sich einen virtuellen Namen: Odysseus.
Dieser führte zu einer E-Mail-Adresse und Zugang zu allem,was das Internet zu bieten hatte. Mithilfe seiner Postfachadresse eröffnete er mehrere Konten.
Dann kam der zweite Schritt, der darin bestand, eine vollkommen neue Person zu erschaffen. Jemanden, den es nie gegeben hatte, der aber in Form eines bescheidenen Kundenkreditstatus und verschiedener Bescheinigungen sowie einer Form der Vergangenheit, die leicht zu dokumentieren war, auf seiner Daseinsberechtigung bestand. Einiges davon, wie etwa unter neuem Namen an falsche Ausweispapiere zu kommen, erwies sich als ein Kinderspiel. Auch jetzt konnte er sich über die buchstäblich Tausende von Firmen, die »allein zu Unterhaltungszwecken« über das Internet gefälschte Ausweise vertrieben, nur wundern. Er bestellte getürkte Führerscheine und College-Ausweise. Er konnte sich auch ein Diplom der Universität von Iowa, Examensjahrgang 1970, besorgen sowie eine Geburtsurkunde von einem nicht existenten Krankenhaus in Des Moines. Überdies ließ er sich auf die Ehemaligen-Liste einer nicht mehr existierenden katholischen Highschool derselben Stadt setzen. Er schrieb sich eine falsche Sozialversicherungsnummer zu. Mit diesem Stapel neuer Papiere bewaffnet, begab er sich zu einer Konkurrenzbank des Instituts, bei dem er Richard Livelys Konto führte, und eröffnete unter einem zweiten Namen ein weiteres kleines Girokonto. Diesen Namen wählte er mit Bedacht: Frederick Lazarus. Sein eigener Vorname gekoppelt mit dem des Mannes, der von den Toten auferweckt worden war.
Und in der Person des Frederick Lazarus machte sich Ricky auf die Suche.
Dabei ging er von einer äußerst simplen Maxime aus: Richard Lively würde real sein und eine ungefährdete Existenz haben. Bei ihm würde er sozusagen zu Hause sein. Frederick Lazarus dagegen war eine Fiktion. Zwischen den beiden würde eskeinerlei Verbindung geben. Einer der Männer würde sich hinter der Fassade der Normalität sicher fühlen. Der andere war eine Kunstfigur, und falls irgendjemand auf den Gedanken käme, Frederick Lazarus zu hinterfragen, dann würde er abgesehen von erfundenen Nummern und einer imaginären Identität vollkommen ins Leere stoßen. Er konnte gefährlich werden. Er war zu kriminellen Handlungen fähig. Er scheute kein Risiko. Bei alledem blieb er jedoch eine Fiktion, zu einem einzigen Zweck geschaffen: Den Mann ausfindig zu machen, der Rickys Leben zerstört hatte, und es ihm in gleicher Münze heimzuzahlen.
24
Ricky ließ Wochen, ja Monate verstreichen, hüllte sich in den New-Hampshire-Winter, zog sich in die Dunkelheit und Kälte zurück, die sich zwischen ihn und das Geschehene legten. Während er sein Leben als Richard Lively täglich weiter entfaltete, verlieh er gleichzeitig seiner zweiten Gestalt, Frederick Lazarus, Kontur. Richard Lively besuchte, wenn er mal einen freien Abend hatte, Basketballspiele am College und sprang bei seinen Vermieterinnen, die schnell Vertrauen zu ihm fassten, gelegentlich als Babysitter ein. Er fehlte äußerst selten bei der Arbeit und verschaffte sich bei seinen Kollegen im Lebensmittelladen wie auch der Universitätshausmeisterei Respekt, indem er in die Rolle des unbekümmerten Spaßvogels schlüpfte, der die Dinge leicht nahm, außer wenn es um gewissenhafte, harte Arbeit ging. Wurde er
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