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Der Patient

Titel: Der Patient Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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Notdiensttelefonen einnahm, war er froh, dass in der Universität das Semester zu Ende ging. Er war auf Anrufer mit der üblichen Erschöpfung und Panik vor dem Examen gefasst, und damit kam er gut zurecht. Er glaubte nicht, dass sich jemand wegenseiner Prüfung in Chemie das Leben nehmen würde, auch wenn sich Leute schon aus dümmeren Gründen umgebracht hatten. Tief in der Nacht konnte er sich endlich konzentrieren.
    Was ist mein Ziel?, fragte er sich.
    Wollte er den Mann, der ihn gezwungen hatte, seinen eigenen Tod vorzutäuschen, dafür töten? Den Mann, der seine entfernten Verwandten bedrohte und alles zerstört hatte, was ihn zu dem gemacht hatte, was er war? Ricky ging davon aus, dass in einigen der Kriminalromane und Thriller, die er im Lauf der letzten Monate verschlungen hatte, die Antwort ein einfaches Ja gewesen wäre. Jemand brachte ihm großen Schaden, und gegen so jemanden drehte man den Spieß einfach um. Man tötete ihn. Auge um Auge, die entscheidende Triebfeder jeder Rache.
    Ricky schürzte die Lippen und sagte sich: Es gibt viele Möglichkeiten, jemanden zu töten. Eine davon hatte er am eigenen Leib erfahren. Es musste noch andere geben, von der Kugel des Meuchelmörders bis hin zu einer wütenden Krankheit. Es war von entscheidender Bedeutung, dass er die richtige Mordmethode fand, und dafür musste er seinen Gegenspieler kennen, nicht nur, wer er war, sondern auch was.
    Und er musste den Tod seines Erzfeindes unbeschadet überstehen. Schließlich war er kein Kamikazeflieger, der einen rituellen Becher Sake trinkt und sich dann mit der größten Unbekümmertheit in den eigenen Tod stürzt. Ricky wollte überleben. Dabei machte er sich nicht die geringsten Illusionen, dass er je wieder Dr. Frederick Starks sein konnte. Keine komfortable Praxis, in der er sich mal gerade achtundvierzig Wochen im Jahr tagtäglich das Gejammer der Reichen über die Unbilden des Lebens anhören durfte. Das war vorbei, und das wusste er.
    Er sah sich in dem kleinen Büro der Telefonseelsorge um. Es lag im Gebäude des Studentischen Gesundheitsdienstes am Hauptflur. Es war eng, nicht besonders bequem, mit einem einzigen Schreibtisch sowie drei Telefonen ausgestattet und mit ein paar Plakaten geschmückt, auf denen die Tabellenplätze der Football-, Lacrosse- und Fußballmannschaften mit Bildern von ihren Athleten gefeiert wurden. Daneben gab es noch eine große Karte vom Campusgelände und eine getippte Liste der Not- und Sicherheitsdienstnummern. In etwas größerer Schrift hing eine Anleitung aus, die der diensthabenden Person am Telefon erklärte, was er oder sie zu tun hatte, falls er zu der Überzeugung gelangte, dass jemand tatsächlich versuchte, sich das Leben zu nehmen. Diese Anleitung gab jeden Schritt vor, der zu unternehmen war, vom Anruf bei der Polizei bis zum Auftrag an den Notruf neun, eins, eins, die Leitung zu überprüfen und zurückzuverfolgen. Davon war nur im äußersten Ernstfall Gebrauch zu machen, wenn tatsächlich ein Leben auf dem Spiel stand und ein Krankenwagen geschickt werden musste. Ricky hatte noch nie darauf zurückgegriffen. In den Wochen, in denen er die Nachtschicht übernommen hatte, war es ihm immer gelungen, selbst den verzweifeltsten Anrufer, wenn auch nicht immer zur Vernunft zu bringen, so doch von einer Kurzschlusshandlung abzuhalten. Er hatte sich gefragt, ob irgendjemand von diesen jungen Leuten erstaunt gewesen wäre, wenn er erfuhr, dass diese ruhige Stimme der Vernunft einem Hausmeister im Chemie-Institut gehörte.
    Das hier, sagte sich Ricky, lohnt sich zu schützen.
    Ein Schluss, der, wie er augenblicklich erkannte, ihn auch zu einer Entscheidung brachte. Er musste Rumpelstilzchen von Durham ablenken. Falls er die sich anbahnende Konfrontation überlebte, musste Richard Lively anonym und sicher sein.
    Und so flüsterte er sich zu: »Zurück nach New York.«
    Als ihm diese Erkenntnis dämmerte, klingelte das Telefon auf seinem Tisch. Er drückte den Knopf für die entsprechende Leitung und nahm den Hörer ab.
    »Telefonseelsorge«, sagte er. »Wie kann ich Ihnen helfen?«
    Es herrschte kurzes Schweigen, dann war ersticktes Schluchzen zu hören, schließlich eine Reihe verworrener Worte, die für sich genommen wenig Sinn ergaben, zusammen aber Bände sprachen. »Ich kann nicht, ich kann einfach nicht, es ist mir alles zuviel, ich will auch nicht, mein Gott, ich weiß nicht …«
    Eine junge Frau, dachte Ricky. Abgesehen von dem aufgewühlten Schluchzen, war kein Lallen

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