Der Patient
Strömungen entstehen durch die fortwährende Wucht, mit der der Ozean an die Küste schlägt, wodurch sich in den ausgedehnten Sandbänken, die den Stränden schützend vorgelagert sind, irgendwann eine leichte Furche unter den Wellen bildet. Wenn die sich verbreitert, findet das hereinkommende Wasser plötzlich eine neue Bahn für seinen eiligen Rückzug ins offene Meer, indem es durch diesen Untersee-Kanal strömt. Auf diese Weise entsteht die Kabbelung an der Oberfläche. Gerät man da hinein, gibt es einige Tricks, an die man sich halten sollte, damit die Erfahrung nur beunruhigend, vielleicht beängstigend, zweifellos ermüdend, im Wesentlichen aber nur unangenehm bleibt. Missachtet man die Tricks, wird man wahrscheinlich sterben. Da die Kabbelung nur einen schmalen Streifen bildet, sollte man nie gegen die Strömung ankämpfen, sondern einfach nur parallel zur Küste schwimmen, und binnen Sekunden wird der heftige Sog verebben, so dass man sich mit einem kräftigen Zug aufs Trockene retten kann. Gewöhnlich sind Kabbelungen auch kurz, so dass man sich lange genug oben halten kann, um beim Nachlassen des Sogs die Richtung zu ändern und an den Strand zurückzuschwimmen. Das sind denkbar einfache Verhaltensregeln, und auf einer Cocktailparty mit festem Boden unter den Füßen oder auch im heißen Sand in der Nähe des Wassers klingen sie so, als sei es nicht schwerer, sich aus einer Kabbelungzu befreien, als sich einen Sandfloh von der Haut zu schnippen.
Die Wirklichkeit ist natürlich um einiges ernster. Wenn man unerbittlich erfasst und vom rettenden Strand weggespült wird, gerät man augenblicklich in Panik. Mit einer Urgewalt davongerissen zu werden, der jede Körperkraft hoffnungslos unterlegen ist, hat etwas Erschreckendes. Angst und das Meer sind eine fatale Kombination. Die Folge sind Panik und Erschöpfung. Nach seiner Schätzung las Ricky in der
Cape Cod Times
von mindestens einem Ertrunkenen pro Sommer, wobei der betroffene Schwimmer nur wenige Meter vor dem rettenden Strand starb.
Ricky setzte alles daran, seine Angst zu beherrschen, denn er merkte, dass er in eine solche Strömung geraten war.
Er holte tief Luft und kämpfte das Gefühl nieder, er würde in etwas Dunkles, Bedrohliches hinabgezerrt. Kaum war die Limousine mit Virgil außer Sicht, hatte er sich seinen Terminkalender geschnappt und Zimmermans Nummer auf der ersten Seite gefunden, wo er sie hingekritzelt und dann vergessen hatte, da er kein einziges Mal in die Verlegenheit gekommen war, den Patienten anzurufen. Er hatte hastig gewählt und horchte jetzt auf das monotone Klingeln. Kein Zimmerman. Auch nicht Zimmermans überbeschützende Mutter. Kein Anrufbeantworter oder sonstiges Dienstmerkmal. Nur ein gleichförmiges, frustrierendes Tuten.
Er hatte in seiner Verwirrung beschlossen, am besten direkt mit Zimmerman zu sprechen. Und selbst wenn der Mann sich von Rumpelstilzchen irgendwie zum Abbruch seiner Behandlung hatte bestechen lassen, so konnte er doch vielleicht zumindest etwas Licht darauf werfen, wer Rickys Peiniger war. Zimmerman war ein verbitterter Mann, aber keiner, der ein Geheimnis für sich behalten konnte, egal was ihm eingebläutworden war. Ricky knallte den Hörer mitten im fruchtlosen Klingeln auf den Sockel und griff nach seinem Jackett. Sekunden später war er zur Tür hinaus.
Zwischen den Häuserzeilen stand, obwohl es schon Abend war, immer noch die Sonne. Die letzten Ausläufer des Stoßverkehrs verstopften nach wie vor die Straßen, auch wenn die Pendlermassen, die sich auf den Bürgersteigen stauten, ein wenig ausgedünnt waren. Obwohl sich New York als die Stadt rühmt, die nie schläft, folgt sie doch demselben Rhythmus wie jede andere Großstadt auch: morgens energiegeladen, mittags zielstrebig und geschäftig, abends vor allem hungrig. Er ignorierte die überfüllten Restaurants, obwohl ihm mehr als einmal im Vorübergehen ein einladender Geruch in die Nase stieg. An diesem Abend jedoch war Ricky Starks’ Hunger ganz anderer Natur.
Er tat etwas, das er sonst fast niemals tat. Statt sich ein Taxi heranzuwinken, machte sich Ricky zu Fuß quer durch den Central Park auf den Weg. Er hatte sich überlegt, dass ihm die Zeit und die Bewegung helfen würden, seine Emotionen in den Griff zu bekommen und zu den Ereignissen Abstand zu gewinnen. Doch trotz seiner Ausbildung und viel gepriesenen Konzentration konnte er sich nur mit Mühe ins Gedächtnis rufen, was Virgil gesagt hatte, wohingegen es ein Leichtes
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