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Der Patient

Titel: Der Patient Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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war, sich an jede Nuance ihres Körpers, vom Lächeln auf ihren Lippen, der Kurve ihrer Brüste bis zur Form ihres Geschlechts zu erinnern.
    Die Hitze des Tages hielt sich bis in den frühen Abend hinein. Schon nach ein paar hundert Metern fühlte er den Schweißfilm im Nacken und in den Achselhöhlen. Er lockerte die Krawatte, zog sich den Blazer aus und schlang ihn sich über den Rücken, was ihm etwas Keckes verlieh – das Gegenteil dessen, wie er sich fühlte. Der Park war immer noch vollerSportler; mehr als einmal trat er beiseite, um eine Phalanx Jogger vorbeizulassen. Er sah gesetzestreue Bürger, die ihre Hunde in den dafür gekennzeichneten Zonen Gassi führten, und kam an einem halben Dutzend laufender Baseballspiele vorbei. Die Spielfelder waren alle so angelegt, dass die Außenfelder sich überschnitten. Er entdeckte, dass oft der rechte Feldspieler der einen Mannschaft mehr oder weniger direkt neben dem linken der anderen im benachbarten Match stand. Dabei schien auf diesem gemeinsamen Boden eine seltsame Großstadtetikette zu herrschen, dergestalt, dass jeder versuchte, sich auf das eigene Spiel zu konzentrieren und dem anderen nicht in die Quere zu kommen. Gelegentlich verirrte sich ein Ball des Teams, das am Schlag war, auf fremdes Territorium, und die Spieler des anderen traten für die Dauer der Unterbrechung geflissentlich beiseite. Ricky kam der Gedanke, dass das Leben selten so einfach und so choreografisch einstudiert war. Gewöhnlich, dachte er, kommen wir uns gegenseitig in die Quere.
    Er brauchte noch einmal eine Viertelstunde in zügigem Schritt, bis er den Häuserblock mit Zimmermans Apartment erreichte. Inzwischen war er schweißgebadet und wünschte sich, er hätte irgendwelche alten Tennis- oder Laufschuhe angezogen statt der guten Wingtips, die sich eng anfühlten. Bald würde er sich eine Blase holen. Er nahm zur Kenntnis, dass sein klamm-feuchtes Unterhemd sein Anzughemd in Oxfordblau verfleckte, und fühlte, wie ihm sein Haar klatschnass an Stirn und Schläfen klebte.
    Vor einer Schaufensterfläche versuchte er, sein Spiegelbild zu überprüfen, und sah statt des adretten, gefassten Arztes, der seine Patienten mit ungerührter Miene an der Sprechzimmertür begrüßt, einen ungepflegten, gehetzten Mann, der sich im Labyrinth seiner eigenen Unentschlossenheit verlief. Er sahgerupft und zerzaust aus und wohl auch ein wenig geängstigt, dachte er, und ließ sich ein bisschen Zeit, um Haltung anzunehmen.
    In den fast dreißig Jahren, die er praktizierte, war er kein einziges Mal aus der streng formalisierten Beziehung zwischen Patient und Analytiker ausgebrochen. Nicht ein einziges Mal war es ihm in den Sinn gekommen, zu einem Patienten nach Hause zu gehen und nach ihm zu sehen. Egal wie verzweifelt ein Schutzbefohlener war, er musste seine Depression in die Praxis bringen. Er musste sich an ihn wenden. War jemand außer sich und nicht mehr Herr der Lage, rief er bei ihm an und machte einen Termin in der Praxis. Dies war fester Bestandteil des Heilungsprozesses. So schwer das manchen Leuten fallen, so sehr ihnen ihre Gefühle zusetzten mochten, war der physische Akt, zu ihm zu kommen, von zentraler Bedeutung. Die Grenzen der Praxisräume zu überschreiten war eine absolute Seltenheit. Zuweilen schien es grausam, diese künstliche Barriere und Distanz zwischen Patient und Therapeut aufrechtzuerhalten, doch ebendiese Distanz brachte die nötigen Einsichten hervor.
    An der Ecke, einen halben Häuserblock von Zimmermans Wohnung entfernt, blieb er, ein wenig erstaunt, sich an dieser Stelle wiederzufinden, erst einmal stehen. Dass sein Zögern nicht so gänzlich verschieden war von Zimmermans gelegentlichem Auf-und-ab-Marschieren draußen vor der Praxistür, kam ihm nicht in den Sinn.
    Er machte zwei, drei Schritte weiter den Block entlang und hielt abrupt an.
    Er schüttelte den Kopf und sagte, wenn auch im Flüsterton: »Ich kann das nicht machen.«
    Ein junges Paar, das an ihm vorbeikam, hatte ihn wohl gehört, denn der Mann sagte: »Klar kannst du das, Junge. Ist leichter,als du denkst.« Die junge Frau an seinem Arm prustete los und knuffte den Mann zur Strafe für seine ebenso rüde wie witzige Bemerkung in den Arm. Sie liefen weiter an ihm vorbei den Dingen entgegen, die sie an diesem Abend erwarteten, während Ricky ruhelos dastand wie ein Boot, das an der Vertäuung zerrt, von Wind und Strömung heftig hin und her gezogen, und dennoch nicht vom Fleck kommt.
    »Was hat sie gesagt?«,

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