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Der Patient

Titel: Der Patient Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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einem anderen. Ziemlich spannend, meinen Sie nicht?«»Faszinierend«, sagte Ricky kurz angebunden. »Und wenn ich noch Psychoanalytiker wäre, würde ich es vermutlich überaus lohnend finden, mich in das Phänomen hineinzuknien. Bin ich aber nicht mehr.«
    »Verstehe, aber ich glaube, Sie irren.« Dr. Lewis zuckte die Achseln. »Ich denke, man kann nicht gar so leicht aufhören, ein Arzt für das menschliche Herz zu sein, wie Sie offenbar denken.« Der alte Mann schüttelte den Kopf. Er hielt den Revolver immer noch fest in der Hand und zielte auf Rickys Gesicht. »Ich denke, unsere Zeit ist um, Ricky. Eine letzte Sitzung. Die Fünfzig-Minuten-Stunde. Vielleicht ist Ihre eigene Analyse jetzt beinahe abgeschlossen. Die eigentliche Frage allerdings, die ich Ihnen mit auf den Weg geben möchte, Ricky, ist die: Wenn er so fest entschlossen war, Ihren Selbstmord zu erzwingen, nachdem Sie seine Mutter im Stich gelassen haben, was wird er erst machen, wenn er glaubt, Sie hätten mich getötet?«
    »Wie meinen Sie das?«, fragte Ricky.
    Doch der alte Arzt antwortete nicht. Stattdessen hob er in einer einzigen zügigen Bewegung den Revolver an die Schläfe und feuerte mit einem irren Grinsen ab.

32
     
    Ricky schrie und kreischte schockiert und fassungslos. Seine Stimme mischte sich in den Nachhall des Schusses. Er flog so heftig in seinem Sessel zurück, als sei die Kugel, die dem alten Arzt den Schädel zertrümmert hatte, abgefälscht worden und hätte ihn in die Brust getroffen. Als der Knall verstummt war und wieder nächtliche Stille herrschte, war Ricky aufgesprungen und starrte von der Tischkante aus auf den Mann hinunter, dem einmal sein volles Vertrauen gegolten hatte. Dr. Lewis war von der tödlichen Wucht des Todes, die ihn in die Schläfe getroffen hatte, leicht verdreht zurückgeworfen worden. Seine Augen waren noch geöffnet und starrten jetzt mit makabrer Intensität geradeaus. Ein scharlachroter Sprühnebel aus Blut und Gehirnmasse hatte das Bücherregal gefärbt, aus der klaffenden Wunde sickerte rotbraunes Blut über das Gesicht und Kinn des Arztes und tränkte sein Hemd. Der Revolver, aus dem der Schuss abgefeuert worden war, glitt ihm aus den Fingern und fiel zu Boden, wo ein feiner Perserteppich den Aufprall dämpfte. Ricky schnappte laut nach Luft, als sich die Muskeln des alten Mannes ein letztes Mal zusammenkrampften und ein Zucken durch seinen Körper ging.
    Er japste nach Luft. Es war, wurde ihm bewusst, nicht der erste Tote, den er sah. Als Assistenzarzt in der Inneren sowie der Notaufnahme war mehr als ein Patient vor seinen Augen gestorben. Doch das geschah immer inmitten von Apparaturenund einer Heerschar von Menschen, die Leben zu retten und den Tod abzuwenden versuchten. Selbst als seine Frau am Ende dem Krebs erlag, geschah das, so schrecklich es war, in einem Prozess, den er einordnen konnte.
    Das hier war vollkommen anders. Es war brutal. Es war Mord, und zwar der besonderen Art. Er merkte, wie ihm die eigenen Hände bebten, als litte er an der Schüttellähmung eines alten Mannes. Energisch kämpfte er gegen den überwältigenden Instinkt an, in Panik davonzulaufen.
    Ricky versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Es war still im Zimmer, und er hörte sein eigenes Keuchen, als hätte er gerade die Spitze eines Berges erklommen und holte in der Kälte tief Luft, ohne dass es viel half. Er hatte das Gefühl, als hätte sich jede Sehne in seinem Körper zusammengezogen und verkrampft und als könne allein die Flucht die Anspannung lösen. Er packte die Schreibtischkante und versuchte, sich auf den Beinen zu halten.
    »Was hast du mir angetan, alter Mann?«, fragte er laut. Seine Stimme schien so fehl am Platze wie ein Lachen im Gottesdienst.
    Dann dämmerte ihm die Antwort auf seine eigene Frage: Er hat versucht, mich zu töten. Eine Kugel für zwei, weil es drei Menschen auf dieser Erde gibt, für die der Tod des alten Mannes ein schwerer Schlag sein wird und die keine Hemmungen kennen. Sie werden mich dafür verantwortlich machen, wie offensichtlich es auch Selbstmord ist.
    Nur dass das Ganze noch komplizierter war. Dr. Lewis gab sich nicht damit zufrieden, ihn zu ermorden. Er hatte die Waffe auf Rickys Gesicht gerichtet und hätte mit Leichtigkeit abdrücken können, auch wenn er wusste, dass Ricky vielleicht noch Zeit haben würde, zurückzufeuern. In Wahrheit wollte der alte Mann dem mörderischen Spiel eine moralischeVerwerflichkeit verleihen, die seiner eigenen gleichkam. Das war ihm

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