Der Patient
was sich dort angesammelt hatte, zu entfernen. Ricky strich mit den Fingern unter der Schreibtischplatte entlang, für den Fall, dass sich dort etwas verbarg. Er beugte sich darunter, fand jedoch nichts. Dann richtete er sein Augenmerk auf den Toten selbst. Er holte tief Luft und tastete in die Taschen des Mannes. Auch sie waren leer. Nichts, was der Selbstmörder an sich trug. Im Schreibtisch ebenso wenig. Es war, als hätte sich der alte Analytiker die größte Mühe gegeben,in seiner Welt sauber zu machen. Ein Mann ihres Berufsstands, dachte er, wusste besser als irgendjemand sonst, welche Dinge über den Menschen Aufschluss geben. Im Umkehrschluss wusste er natürlich auch besser als die meisten, wie man sich als unbeschriebenes Blatt präsentiert und all die Dinge ausmerzt, die etwas über die Persönlichkeit verraten.
Wieder ließ Ricky den Blick durchs Arbeitszimmer schweifen. Er überlegte, ob es vielleicht einen Safe gab. Er entdeckte die Uhr und kam auf einen Gedanken. Dr. Lewis hatte von Zeit gesprochen. Vielleicht, dachte Ricky, war ja das der Schlüssel zum Versteck. Er sprang zur Wand und sah hinter die Uhr.
Nichts.
Er hätte vor Zorn schreien können. Es muss hier sein, insistierte er.
Ricky holte noch einmal tief Luft. Vielleicht ja auch nicht, und der alte Mann wollte nur, dass ich noch hier bin, wenn seine mordlustigen Adoptivkinder hier eintreffen. War das sein Spiel? Vielleicht wollte er, dass es hier und heute Nacht zu Ende ging. Ricky schnappte sich seine eigene Waffe und wirbelte wieder zur Tür herum.
Dann schüttelte er den Kopf. Nein, das wäre eine zu simple Lüge, und Dr. Lewis’ Lügen waren bei weitem komplexer. Hier muss etwas zu finden sein.
Ricky wandte sich zum Bücherschrank. Reihenweise medizinische und psychiatrische Abhandlungen, gesammelte Schriften von Freud und Jung, ein paar moderne Studien und klinische Versuchsreihen in gebundener Form. Bücher über Depression. Bücher über Angst. Bücher über Träume, Dutzende Bücher, die nur einen Bruchteil des gesammelten Wissens über die Emotionen des Menschen ausmachten. Einschließlich des Buchs, in dem Rickys Kugel steckte. Er betrachteteden Titel auf dem Rücken:
Enzyklopädie der Psychologie des Abnormen
. Nur dass das
ormen
des letzten Wortes von seiner Kugel zerfetzt worden war.
Er blieb wie gelähmt stehen und starrte geradeaus.
Wozu brauchte ein Psychoanalytiker eine Abhandlung über die Psychologie des Abnormen? Ihr Beruf hatte fast ausschließlich mit mehr oder weniger verdrängten Emotionen zu tun. Nicht mit den wirklich dunklen Verstrickungen des Menschen. Von all den Büchern im Regal war dies das einzige, das irgendwie aus dem Rahmen fiel, was allerdings nur ein Mann vom Fach erkennen konnte.
Der Arzt hatte gelacht. Er hatte sich umgedreht, hatte gesehen, wo die Kugel eingeschlagen war, gelacht und gesagt, näher an der Wahrheit als an seinem Kopf.
Ricky sprang ans Bücherregal und griff sich den Text aus dem Fach. Es war ein dicker, schwerer Wälzer, in Schwarz gebunden, mit markanten Goldlettern auf dem Deckel. Er schlug die Seite mit dem Titel auf.
In dicker roter Tinte war mit einem Flair-Füllfederhalter quer über die Seite geschrieben:
Gute Wahl, Ricky. Und können Sie jetzt auch noch die richtigen Stichworte finden?
Er sah auf und hörte das Ticken der Uhr. Er glaubte nicht, dass ihm die Zeit blieb, die Frage hier und jetzt zu beantworten.
Er trat von dem Regal zurück, um loszurennen, blieb aber noch einmal stehen. Er wandte sich noch einmal um, nahm ein anderes Buch aus einem anderen Fach und stellte es in die Lücke, so dass nicht zu erkennen war, dass dort etwas fehlte. Ricky sah sich noch einmal rasch im Zimmer um, entdeckte aber nichts, was ihm ins Auge sprang. Er warf einen letzten Blick auf die Leiche des alten Kollegen, die seit dem Eintritt des Todes grauer geworden schien. Ihm kam der Gedanke,dass er eigentlich etwas sagen oder empfinden sollte, wusste jedoch nicht mehr, was, und so rannte Ricky los.
Die onyxfarbene Nacht hüllte ihn ein, als er sich aus Dr. Lewis’ Landsitz schlich. Mit wenigen großen Schritten hatte er die Tür erreicht und war aus dem matten Licht, das durchs Fenster des Arbeitszimmers drang, in die schwarze Sommernacht getaucht. Im Schatten der Dunkelheit konnte Ricky einen letzten Blick über die Schulter werfen. Die lieblichen Laute der ländlichen Umgebung boten das vertraute nächtliche Konzert, und kein Missklang ließ erkennen, dass ein gewaltsamer
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