Der Patient
viel wichtiger, als Ricky und sich selbst auszulöschen. Ricky versuchte, unter dem Ansturm der Gedanken durchzuatmen. Die ganze Zeit schon war er das Gefühl nicht losgeworden, das alles drehe sich nicht allein um den Tod. Es ging um den Prozess. Es ging darum, wie man an die Schwelle des Todes kam.
Ein Spiel, das sich nur ein Psychoanalytiker ausdenken konnte.
Wieder sog er heftig die dünne Luft im Arbeitszimmer ein. Rumpelstilzchen mochte das ausführende Organ und auch der Anstifter des Rachefeldzugs sein, ging es Ricky durch den Kopf. Doch die Idee zu dem Ganzen kam von dem Toten, der vor ihm saß. Daran gab es nicht den geringsten Zweifel.
Woraus zu schließen war, dass er, wenn er von Wissen sprach, vermutlich die Wahrheit sagte, oder zumindest eine pervertierte, verdrehte Version davon.
Ricky brauchte ein, zwei Sekunden, bis er merkte, dass er immer noch den Umschlag in der Hand hatte, den ihm sein einstiger Lehrer gegeben hatte. Er hatte Mühe, sich vom Anblick des Toten loszureißen. Es war, als ginge von diesem Selbstmord eine hypnotische Wirkung aus. Doch am Ende gelang es ihm. Er riss die Lasche auf und zog ein einzelnes Blatt Papier aus dem Umschlag. Hastig las er die Zeilen:
Ricky: Der Sold der Sünde ist der Tod. Denken Sie an diesen letzten Moment als den Preis, den ich für all das zahle, was ich falsch gemacht habe. Die Informationen, die Sie suchen, haben Sie vor Augen, aber können Sie sie auch finden? Sind wir nicht dauernd damit beschäftigt? Sind wir nicht dauernd dem Geheimnis auf der Spur, das in Wahrheit so offen liegt? Auf der Suche nachHinweisen, auf die wir geradezu mit der Nase gestoßen werden?
Ich weiß nicht, ob Sie genug Zeit haben und schlau genug sind, um zu sehen, was Sie sehen müssen. Ich möchte es bezweifeln. Ich halte es für weitaus wahrscheinlicher, dass Sie heute Nacht sterben, und zwar auf mehr oder weniger die gleiche Weise wie ich. Nur dass Ihr Tod wohl um einiges schmerzhafter sein wird, da Sie viel weniger Schuld trifft als mich.
Der Brief war nicht unterschrieben.
Mit jedem Atemzug sog Ricky ein neues, nie gekanntes Ausmaß von Panik ein.
Er blickte auf und sah sich langsam im Arbeitszimmer um. Bei jeder Sekunde, die verging, tickte eine Uhr an der Wand, und das Geräusch drang Ricky in diesem Moment ins Bewusstsein. Er versuchte, seine Hausaufgaben zu machen: Wann hatte der alte Mann wohl Merlin und Virgil und vielleicht auch Rumpelstilzchen angerufen und ihnen gesagt, dass Ricky auf dem Weg zu ihm sei? Von New York aus waren es zwei Stunden hier heraus. Vielleicht auch etwas weniger. Blieben ihm noch Sekunden? Minuten? Eine Viertelstunde? Er wusste, dass er von dem Tod, der vor ihm auf diesem Sessel saß, so weit wie möglich wegkommen musste, und sei es auch nur, um sich zu sammeln und Klarheit darüber zu verschaffen, welche Optionen ihm blieben, wenn überhaupt. Es war, als spielte er gegen einen Großmeister Schach und setzte seine Figuren aufs Geratewohl, während er die ganze Zeit wusste, dass sein Gegner stets zwei, drei, vier oder mehr Züge voraussehen kann.
Er hatte eine trockene Kehle und einen heißen Kopf.
Direkt vor meiner Nase, dachte er.
Er schlich sich vorsichtig um den Tisch, sehr darauf bedacht, nicht versehentlich die Leiche des Psychoanalytikers zu berühren, streckte die Hand nach der obersten Schublade aus und hielt inne. Was lasse ich hier zurück?, dachte er. Haare? Fingerabdrücke? DNS? Habe ich überhaupt ein Verbrechen begangen?
Dann kam ihm der Gedanke: Es gibt zwei Arten von Verbrechen. Die erste ruft die Polizei und die Staatsanwälte auf den Plan und schreit danach, dass der Staat Gerechtigkeit walten lässt. Die zweite trifft die Herzen der Menschen. Manchmal überlappen sich die beiden Arten auch. Doch so viel von dem, was geschehen war, fiel in die zweite Kategorie, und seine größte Sorge galt der Gruppe aus Richter, Geschworenen und Vollstrecker, die auf dem Weg zu ihm war.
Er konnte sich um diese Fragen nicht drücken. Er tröstete sich damit, dass der Mann, der in diesem Raum seine Fingerabdrücke und sonstigen Spuren hinterließ, ebenfalls tot war und ihm dieser Umstand einigen Schutz gewährte, und wenn auch nur vor der Polizei, die aller Wahrscheinlichkeit nach irgendwann in der Nacht vor Ort sein würde. Er griff nach der Schublade und zog sie auf.
Sie war leer.
Eine nach der anderen öffnete er die übrigen, doch auch sie waren ausgeräumt. Dr. Lewis hatte sich offensichtlich die Zeit genommen, alles,
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