Der Patient
den Kopf.
»Und wissen Sie was, Ricky, wissen Sie, was ihn außer seinem großen Reichtum noch auszeichnet, Ricky?«
»Was?«
»Er gibt nicht auf.«
Der alte Psychoanalytiker seufzte und fügte hinzu: »Aber das haben Sie vielleicht schon gemerkt. Wie er Jahre gewartet und sich vorbereitet hat, um dann jeden zu verfolgen, der seiner Mutter Schaden zugefügt hat, und sein Leben zu zerstören so wie er vorher das ihre. Das hat doch schon etwas Anrührendes. Die Liebe eines Sohnes. Das Vermächtnis einer Mutter. War es Unrecht von ihm, das zu tun? All die Menschen zu bestrafen, die systematisch oder auch unwissentlich ihr Leben ruinierten? Die sie in einer äußerst unbarmherzigen Welt mit drei kleinen, bedürftigen Kindern im Stich gelassen haben? Ich glaube, nicht so ganz, Ricky. Ganz und gar nicht. Wenn selbst die lästigsten Politiker endlos darüber lamentieren, wir lebten in einer Gesellschaft, die der Verantwortung aus dem Weg geht. Bedeutet Rache nicht einfach nur, dass man seine Pflicht und Schuldigkeit akzeptiert, auch wenn man sie in einer anderen Lösung sieht? Die Menschen, die er sich vorgeknöpft hat, die hatten wahrhaftig Strafe verdient. Sie haben – so wie Sie – einen Menschen ignoriert, der um Hilfe flehte. Da stimmt etwas nicht bei unserer Zunft. Manchmal wollen wir allzu viel erklären, wo die eigentliche Antwort …«
Der Arzt deutete auf die Waffe in Rickys Hand.
»Aber wieso ich?«, platzte Ricky heraus. »Ich hab doch nicht …«
»Natürlich haben Sie. Sie kam in einer verzweifelten Lage zu Ihnen, und Sie waren viel zu sehr damit beschäftigt, in welche Richtung es mit Ihrer Karriere weitergehen sollte, um ihr genügendAufmerksamkeit zu schenken und ihr die Hilfe angedeihen zu lassen, die sie brauchte. Kommen Sie, Ricky, eine Patientin, die sich, während sie bei Ihnen in Therapie ist – und wenn auch nur für ein paar Sitzungen –, das Leben nimmt, macht Ihnen das etwa keine Gewissensbisse? Kommen da keine Schuldgefühle auf? Haben Sie es nicht verdient, dafür zu zahlen? Mit welchem Recht glauben Sie, Vergeltung sei eine geringere Verantwortung im Leben als andere menschliche Aktivitäten?«
Ricky antwortete nicht. Nach einer Weile fragte er, »Wann haben Sie erfahren …«
»Von Ihrer Verbindung zu meinem Adoptiv-Experiment? Gegen Ende Ihrer Analyse. Ich habe einfach beschlossen abzuwarten und zu sehen, wie sich die Dinge über die Jahre entwickeln würden.«
Ricky merkte, wie ihm die Wut hochstieg und der Schweiß ausbrach. Er bekam einen trockenen Mund.
»Und als er hinter mir her war? Sie hätten mich warnen können.«
»Mein Adoptivkind zugunsten eines ehemaligen Patienten ver raten? Der nicht einmal mein Lieblingspatient war …«
Das saß. Er sah, dass der alte Mann kein Deut besser war als das Kind, das er angenommen hatte. Vielleicht sogar schlimmer.
»… Ich fand, dass man es als gerechte Strafe betrachten konnte.« Der alte Psychoanalytiker lachte laut auf. »Aber Sie kennen nicht einmal die halbe Wahrheit, Ricky.«
»Und was wäre die Hälfte, die ich nicht weiß?«
»Ich denke, das werden Sie wohl selbst herausfinden müssen.«
»Und die anderen beiden?«
»Der Mann, den Sie als Merlin kennen, ist tatsächlich Anwalt,und ein fähiger obendrein. Die Frau, die Sie als Virgil kennen, ist Schauspielerin, mit besten Aussichten auf eine steile Karriere. Besonders jetzt, wo sie fast damit durch sind, die losen Fäden ihres Lebens zu verknüpfen. Ich denke, Ricky, dass Sie und ich für die drei vielleicht die letzten losen Fäden sind. Und noch etwas sollten Sie wissen, Ricky: Die beiden sind fest davon überzeugt, dass ihr älterer Bruder, der Mann, den Sie als Rumpelstilzchen kennen, ihnen das Leben gerettet hat. Nicht ich, wirklich nicht, auch wenn ich zu ihrer Rettung beigetragen habe. Nein, er war es, der die drei zusammengehalten hat, der dafür gesorgt hat, dass sie nicht auf die schiefe Bahn geraten, der darauf bestand, dass sie zur Schule gehen und glatte Einsen nach Hause bringen und dann eine Menge aus ihrem Leben machen. Also, Ricky, soviel zumindest müssen Sie begreifen: Diese zwei sind dem Mann, der Sie töten wird, dem Mann, der Sie schon einmal getötet hat, ganz und gar treu ergeben. Ist das nicht faszinierend, Ricky, aus psychiatrischer Sicht? Ein Mann ohne Skrupel, der blinde, vollkommene Hingabe bewirkt? Ein Psychopath, der Sie ebenso sicher töten wird, wie Sie unterwegs auf eine Spinne treten werden. Der aber trotzdem geliebt wird und
Weitere Kostenlose Bücher