Der Patient
Tod Teil dieser Landschaft war. Eine Sekunde blieb er stehen und versuchte, sich vor Augen zu führen, wie er im Verlauf des letzten Jahres Stück für Stück ausradiert worden war. Identität ist eine Patchworkdecke, ein Flickwerk aus Erfahrungen, doch ihm schien von dem, wofür er sich einmal gehalten hatte, nur wenig geblieben. Was ihm blieb, war seine Kindheit. Sein Leben als Erwachsener war zerfetzt. Doch beide Abschnitte seines Lebens waren wie amputiert, und er wusste nicht, wie er wieder daran anknüpfen sollte. Bei der Erkenntnis wurde ihm flau und schwindelig.
Er drehte sich wieder um und setzte seine Flucht fort.
In gemächlichem Trab lief Ricky in Richtung seines Wagens und lauschte, wie sich das Geräusch seiner Schritte mit den anderen Lauten der Nacht vermengte. In einer Hand hielt er die Enzyklopädie der Psychologie des Abnormen, in der anderen seine Waffe. Er hatte die halbe Strecke zurückgelegt, als er das unverkennbare Brummen eines Fahrzeugs hörte, das sich mit hoher Geschwindigkeit auf einer Landstraße näherte. Er blickte auf und sah, wie der Scheinwerferkegel in der Ferne um eine Ecke schwenkte, und hörte den tiefen, kehligen Laut eines starken Motors beim Beschleunigen.
Er fackelte nicht lang. Er wusste genau, wer so eilig in diese Richtung kam. Ricky warf sich zu Boden und robbte hinter eine Baumgruppe, wo er sich dicht an die Erde duckte, jedoch den Kopf so weit hob, dass er in diesem Moment einen großen schwarzen Mercedes vorbeirasen sah. An der nächsten Ecke quietschten die Reifen.
Noch im Aufstehen sprintete er los. Dies war eine echte Flucht, und er rannte mit schmerzenden Muskeln und vor Erschöpfung rotglühender Lunge so schnell er konnte durch die Nacht. Wegzukommen war das Einzige, was zählte. Er horchte angestrengt nach hinten, auf das bedrohliche Geräusch eines großen Wagens, und stürzte weiter davon. Er musste weg. Sie würden nicht lange im Haus bleiben, sagte er sich und zwang seine Füße voran. Wenige Augenblicke, um den Tod im Arbeitszimmer zu ermessen und festzustellen, ob Ricky noch im Hause war. Oder in der Nähe. Sie werden wissen, dass zwischen dem Selbstmord und ihrem Eintreffen nur ein paar Augenblicke liegen, und sie werden die Lücke schließen wollen.
In wenigen Minuten hatte er seinen Leihwagen erreicht. Er kramte nach den Schlüsseln, ließ sie einmal fallen, hob sie wieder auf und schnappte vor Anspannung nach Luft. Er stürzte hinters Lenkrad und warf den Motor an. Jeder In stinkt in ihm schrie danach, Gas zu geben und zu verschwinden. Das Weite zu suchen. Doch er unterdrückte den Drang und setzte alles daran, nicht die Nerven zu verlieren.
Er zwang sich, nachzudenken. Mit diesem Auto kann ich ihnen nicht entkommen. Es gibt zwei Routen zurück nach New York, die Autobahn am Westufer des Hudson und den Taconic Parkway im Osten. Ihre Chancen stehen fünfzig zu fünfzig, richtig zu raten und mich im Wagen zu erkennen. Das Kennzeichen aus New Hampshire würde ihnen sofort verraten,wer am Steuer sitzt. Sie haben sich in der Agentur in Durham vielleicht eine Beschreibung des Fahrzeugs und die Nummer geben lassen. Höchstwahrscheinlich sogar.
Was er in dem Moment begriff, war, dass er etwas Unerwartetes tun musste. Etwas, das dem, womit die Drei im Wagen rechneten, widersprach.
Er merkte, wie seine Hände zitterten, während er überlegte. Er fragte sich, ob es ihm jetzt, wo er bereits einmal gestorben war, leichter fallen würde, sein Leben aufs Spiel zu setzen.
Er legte den Gang ein und fuhr langsam in Richtung des Hauses von Dr. Lewis zurück. Dabei machte er sich auf dem Sitz so klein, wie er konnte, ohne dass es aufgefallen wäre. Er zwang sich, die Geschwindigkeitsbegrenzung einzuhalten, während er die alte Landstraße Richtung Norden fuhr, obwohl die relative Sicherheit der City im Süden lag.
Er näherte sich gerade der Einfahrt des Hauses, als er die Scheinwerfer des Mercedes auf die Straße schwenken sah. Er hörte, wie die großen Reifen auf dem Kiesweg knirschten. Er fuhr ein wenig langsamer, um nicht im direkten Lichtkegel des großen Wagens vorbeizufahren, sondern ihnen Zeit zu geben, auf die Straße und in seine Richtung einzuschwenken und dann aufs Gas zu drücken. Er hatte das Fernlicht an und blendete, als sie näher kamen, vorschriftsmäßig ab, so wie es jeder Autofahrer tut. Doch angesichts ihres forschen Tempos war es ebenso normal, dass er kurz mit Lichthupe protestierte. Infolgedessen fuhren beide Autos mit Fernlicht
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