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Der Patient

Titel: Der Patient Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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dicht aneinander vorbei. So wie Ricky selbst für einen Moment geblendet war, so waren es natürlich auch sie. Im Vorbeifahren trat er aufs Gas und fuhr so schnell wie möglich um die Ecke. Zu schnell, hoffte er, als dass jemand in dem Mercedes sich hätte umdrehen und das rückwärtige Nummernschild lesen können.
    Er bog in die erstbeste Nebenstraße rechts ab und schaltete die Scheinwerfer aus. Im Dunkeln kehrte er um und fuhr im schwachen Licht des Mondes dieselbe Straße zurück. Er mahnte sich, nicht auf die Bremse zu treten, damit nicht die Bremslichter leuchteten. Dann wartete er, ob ihm jemand folgte.
    Die Straße war nach wie vor leer. Er zwang sich, fünf, dann zehn Minuten zu warten. Lange genug für die Leute im Mercedes, sich für eine der beiden Routen zu entscheiden und den großen Wagen auf hundert Stundenmeilen hochzujagen, um ihn einzuholen.
    Ricky legte den Gang wieder ein und fuhr auf kleinen und mittleren Nebenstraßen ziellos weiter nach Norden. Nach fast einer Stunde wendete er erneut und wagte sich endlich Richtung New York. Es war bereits spätnachts, und es herrschte kaum Verkehr. Ricky fuhr gemächlich vor sich hin und dachte darüber nach, wie eng seine Welt geworden war und wie dunkel, und wie er wieder mehr Licht hereinlassen konnte.
     
    Erst in den frühen Morgenstunden erreichte er die Stadt. New York steht um diese Zeit unter dem Zeichen des Wechsels: von den schillernden Nachtlichtern, den schönen wie den schäbigen Gestalten, die auf der Suche nach Abenteuer noch durch die Straßen geistern, zu den ersten Werktagsmassen. Wenn der Fischmarkt und die Viehtransporte den anbrechenden Tag an sich reißen. Der gleitende Übergang, der sich da auf dem glitschig feuchten, neonglänzenden Pflaster vollzieht, ist irritierend. Eine gefährliche Zeit. Eine Zeit, in der Hemmungen und Skrupel schwinden und das Riskante lockt.
    Er war in sein Hotelzimmer zurückgekehrt und widerstandder Versuchung, sich aufs Bett zu werfen und in tiefen Schlaf zu sinken. Er klammerte sich daran, dass das Buch über die Psychologie des Abnormen ihm Antworten liefern würde, er musste sie einfach nur lesen. Fragte sich nur, wo?
    Die Enzyklopädie enthielt siebenhundertneunundsiebzig Seiten Text. Sie war alphabetisch geordnet. Er blätterte die Seiten durch, konnte jedoch zunächst nichts von Bedeutung finden. Doch er wusste – wie ein Mönch, der in der Zelle eines altehrwürdigen Klosters über einem dicken Wälzer brütet – dass das, was er wissen musste, irgendwo auf diesen Seiten auf ihn wartete.
    Ricky lehnte sich in seinem Stuhl zurück, griff sich den erstbesten Bleistift und klopfte sich damit gegen die Zähne. Ich bin hier richtig, dachte er, doch wenn er nicht jede Seite einzeln untersuchen wollte, konnte er nicht recht sagen, wie er vorgehen sollte. Er schärfte sich ein, dass er sich die Methoden des Mannes zu eigen machen musste, der in dieser Nacht gestorben war. Ein Spiel. Eine Herausforderung. Ein Puzzle. Hier drin sind sie zu finden, dachte Ricky. In einem Text über abnorme Psychologie.
    Was hat er mir gesagt? Virgil ist Schauspielerin. Merlin ist Anwalt. Rumpelstilzchen ist Berufskiller geworden. Drei Berufe wirken zusammen. Als er unschlüssig ein paar Seiten umblätterte und überlegte, wie er das Problem am besten löste, stieß er auf die paar Blätter, die dem Buchstaben V gewidmet waren. Fast durch Zufall entdeckte er ein Zeichen auf der ersten dieser Seiten, der fünfhundertneunundfünfzig. In der oberen Ecke stand in derselben Tinte, die Dr. Lewis auch für seinen Gruß auf dem Titelblatt verwendet hatte, ein Bruch mit einer Eins und einer Drei. Ein Drittel.
    Mehr nicht.
    Ricky blätterte zu M zurück. Hier fand er an einer ähnlichenStelle ein weiteres Zahlenpaar, jedoch anders geschrieben, nämlich ein Viertel in Ziffern, mit einem Schrägstrich dazwischen – ¼. Auf der Eingangsseite zum Buchstaben R wartete eine dritte Anmerkung, nämlich zwei Fünftel – zwei, Schrägstrich, fünf.
    Ricky hegte keinen Zweifel, dass es sich hier um Hinweise handelte. Jetzt musste er nur noch jeweils das Schloss zum Schlüssel finden.
    Ricky lehnte sich ein wenig auf seinem Sitz nach vorn und wippte vor und zurück, wie um seinen angespannten Magen zu beruhigen. Das geschah ganz unbewusst, während er sich auf das Problem vor seinen Augen konzentrierte. Er sah sich einer derart vertrackten, derart komplexen Persönlichkeitsstruktur gegenüber, wie sie ihm in all den Jahren als Analytiker noch

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