Der Patient
LuAnne, als anständige Bürgerin bist du dazu verpflichtet, ihnen zu sagen, dass du gesehen hast, wie der Mann gesprungen ist. Und dann gibt sie mir zehn Dollar. Zehn Dollar ganz für mich allein. Aber dafür muss ich es ihr versprechen. Versprichst du, LuAnne, sagt sie zu mir, versprichst du, zur Polizeizu gehen und zu sagen, dass du gesehen hast, wie der Mann auf Nimmerwiedersehen gesprungen ist? Ja, sag ich, großes Ehrenwort. Also bin ich zur Polizei, so wie sie gesagt hat und wie ich es ihr versprochen hab. Hat sie Ihnen auch zehn Dollar gegeben?«
»Nein«, sagte Ricky langsam, »mir hat sie keine zehn Dollar gegeben.«
»Ach, wie dumm«, sagte LuAnne und schüttelte den Kopf.
»Pech für Sie.«
»Ja, zu dumm«, stimmte Ricky zu. »Und mein Pech.«
Er blickte auf und sah, wie die Kommissarin auf sie zu kam. Die Ereignisse des Tages schienen ihr noch mehr zugesetzt zu haben, als Ricky aus der Ferne vermutet hatte. Aus ihrem bedächtigen Gang sprachen verspannte Muskeln, müde Glieder und mehr oder weniger ausgebrannte Lebensgeister – was nach der Hitze des Tages und nach der mühsamen Aufgabe, die sterblichen Überreste des unglückseligen Mr. Zimmerman einzusammeln und anschließend seine letzten Sekunden vor dem finalen Schritt über die Plattform stückweise zusammenzufügen, nicht weiter verwunderte. Es überraschte ihn, dass sie zur Begrüßung immerhin den Anflug eines Lächelns zustande brachte.
»Hallo«, sagte sie. »Ich nehme mal an, Sie kommen wegen Mr. Zimmerman?« Doch bevor er antworten konnte, wandte sich Detective Riggins an LuAnne: »LuAnne, ich lasse Sie für heute Nacht von einem Beamten zum Obdachlosenheim in der Hundertzweiten fahren. Danke, dass Sie hergekommen sind, Sie haben uns sehr geholfen. Bleiben Sie im Heim, Lu-Anne, okay? Für den Fall, dass ich Sie noch mal brauche.«
»Sie sagt, wir sollen im Heim bleiben, aber sie hat keine Ahnung, wie wir das Heim hassen. Es ist voll von gemeinen Irren, die dich beklauen und dir ein Messer zwischen die Rippenstoßen, wenn sie wissen, dass du zehn Dollar von einer hübschen Frau bekommen hast.«
»Ich werde dafür sorgen, dass es niemand erfährt und Sie in Sicherheit sind. Bitte.«
LuAnne schüttelte den Kopf, sagte aber dazu: »Ich will’s versuchen, Detective.«
Detective Riggins deutete auf die Tür, an der zwei Polizisten in Uniform warteten. »Die beiden da bringen Sie hin, okay?« LuAnne stand auf und schüttelte den Kopf.
»Die Fahrt wird Ihnen Spaß machen, LuAnne. Wenn Sie wollen, werde ich sie bitten, Blaulicht und Sirene anzumachen.«
Das brachte ein Lächeln auf ihr Gesicht. Sie nickte mit kindlichem Enthusiasmus. Die Ermittlerin hob das Kinn in Richtung der beiden Cops. »Jungs, rollt für unsere Zeugin hier den roten Teppich aus. Blaulicht und das ganze Programm, okay?«
Beide Beamten zuckten grinsend die Achseln. Das war ein angenehmer Auftrag, und sie beklagten sich nicht, solange Lu-Anne schnell genug wieder aus ihrem Wagen verschwand, so dass der beißende Geruch nach Schweiß und Schmutz und Infektion, den sie wie ein Parfüm verbreitete, gleich wieder verflog.
Ricky sah zu, wie die geistesgestörte Frau, nunmehr wieder nickend und in Selbstgespräche vertieft, zusammen mit den Polizisten zum Ausgang schlurfte. Er drehte sich um und sah, dass Detective Riggins ihren Abgang ebenfalls verfolgte. Die Polizistin seufzte. »Sie ist nicht annähernd so übel dran wie manche von denen«, sagte sie. »Und sie ist nicht viel unterwegs. Entweder sitzt sie hinter der Bodega in der Siebenundneunzigsten Straße, in der Station, in der sie heute war, oder oben im Eingang zum Riverside Park auf der Sechsundneunzigsten. Ich meine, sie ist irre und ziemlich hinüber, aber deswegennicht gemein, so wie manche. Ich wüsste gern, wer sie eigentlich ist. Man fragt sich, Doktor, ob es da vielleicht irgendwo jemanden gibt, der sich wegen ihr Sorgen macht. Draußen in Cincinnati oder Minneapolis. Angehörige, Freunde, Verwandte, die sich fragen, was wohl aus ihrer exzentrischen Tante oder Kusine geworden ist. Vielleicht hat sie ein Öl-Imperium geerbt oder ist Lottokönigin. Das wär doch irgendwie toll, finden Sie nicht? Wüsste gerne, was passiert ist, dass sie so endet. All diese irren kleinen chemischen Botenstoffe im Gehirn, die außer Kontrolle blubbern. Aber das ist ja eher Ihr Terrain, nicht meins.«
»Medikamentöse Behandlung ist nicht mein Gebiet«, sagte Ricky. »Anders als bei einer Reihe von Kollegen. Eine
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