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Der Patient

Titel: Der Patient Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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erdrückende Stille.
    Die Tür zu seinem Sprechzimmer stand offen, ein gähnendes schwarzes Loch. Urplötzlich überkam ihn das bestimmte Gefühl, dass er beim Verlassen seiner schützenden vier Wände, nur wenige Minuten nach Virgils Besuch, diese Tür wie gewohnt auch an diesem Abend hinter sich zugemacht hatte. Ihm wurde mulmig, Zweifel fraßen an seinem Magen. Er starrte auf die offene Tür und versuchte sich mit aller Macht zu erinnern, was genau er beim Hinausgehen getan hatte, und in welcher Reihenfolge.
    Er sah vor sich, wie er den Schlips umband, das Jackett anzog, sich bückte, um an seinem rechten Schnürsenkel einen Doppelknoten zu machen, sich an die Hüfte griff, um nach der Brieftasche zu fühlen, die Wohnungsschlüssel in seine Hosentasche steckte und klirren ließ, um sicherzugehen, dass sie nicht herausfallen konnten. Er sah, wie er die Wohnung durchquerte, sie durch die Eingangstür verließ, auf den Fahrstuhl wartete, der aus dem dritten Stock herunterkam; wie er sich schließlich auf der Straße wiederfand, wo die Luft über dem Bürgersteig immer noch heiß und abgestanden war. Das alles lag ihm klar vor Augen – derselbe Aufbruch wie an tausend anderen Tagen. Erst bei der Rückkehr stimmte etwas nicht, lag irgendetwas schief, war etwas eigenartig verzerrt wie in einem Spiegelkabinett, in dem man seinen Deformationen nicht entrinnen kann, wie man sich auch dreht und wendet. Es schrie in ihm:
Hast du diese Tür zugemacht oder nicht?
    Er biss sich frustriert auf die Lippe, versuchte, sich das Gefühl ins Gedächtnis zu rufen, wie er den Knauf in der Hand hielt oder die Tür in seinem Rücken in den Rahmen fiel. Er konntesich nicht entsinnen, und wie gelähmt blieb er stehen, als ihm bewusst wurde, dass nicht einmal ein simpler, alltäglicher Vorgang wie dieser hier bei ihm haften blieb. Folglich drängte sich ihm eine noch viel beklemmendere Frage auf, auch wenn er sich dessen nicht gleich bewusst war:
Wieso kannst du dich nicht daran erinnern?
    Er holte tief Luft und beruhigte sich: Du musst sie aufgelassen haben. Aus Versehen.
    Dennoch rührte er sich nicht. Er fühlte sich mit einem Mal völlig saft- und kraftlos. Beinahe wie jemand, der gerade eine Schlägerei hinter sich hatte, beziehungsweise so, wie er sich vermutlich fühlen würde, denn, so wurde ihm schlagartig bewusst, er hatte sich noch nie mit jemandem geprügelt. Zumindest nicht als Erwachsener – die gelegentlichen Rangeleien halbwüchsiger Jungen zählten nicht und lagen unendlich weit zurück.
    Die Dunkelheit schien ihn zu verspotten. Er horchte angestrengt ins Zimmer.
    Da ist keiner, sagte er sich.
    Doch wie um den Selbstbetrug zu unterstreichen, rief er deutlich »Hallo?«.
    Bei dem Laut dieses einzigen Wortes wurde ihm noch enger in der Brust. Ricky kam sich plötzlich vollkommen lächerlich vor. Ein Kind, machte er sich klar, hat Angst vor Schatten, ein Erwachsener nicht, und schon gar nicht einer, der sich sein ganzes Leben als Erwachsener mit den geheimen, verborgenen Ängsten der menschlichen Seele beschäftigt hat.
    Er trat vor und versuchte, sich zusammenzureißen. Er war zu Hause, machte er sich klar, in Sicherheit.
    Dennoch griff er, bevor er über die Schwelle trat, hastig nach dem Lichtschalter links von der Tür, wobei er erst einmal an der Wand danach tasten musste. Er knipste an.
    Es passierte nichts. Der Raum blieb schwarz.
    Ricky holte tief Luft, so dass ihm das Dunkel in die Lungen drang. Er schnippte mehrmals gegen den Schalter, als könne er nicht fassen, dass kein Licht im Zimmer war. Er fluchte laut, »Verdammt noch mal, was zum Teufel …«, trat aber nicht ein. Stattdessen ließ er seinen Augen Zeit, sich an die Dunkelheit zu gewöhnen, während er weiter angestrengt auf Geräusche horchte, die ihm verrieten, dass er nicht alleine war. Er versuchte, sich zu beruhigen: Wenn man wie er an diesem Abend eine derart beängstigende Erfahrung hinter sich hatte, dann spielten einem die Nerven natürlich mit. Dennoch wartete er ein paar Sekunden, bis seine Augen in dem unbeleuchteten Raum ein paar Konturen ausmachen konnten, und ließ den Blick ein paarmal durch das Dunkel schweifen. Dann durchquerte er mit wenigen Schritten das Zimmer und tastete nach seinem Schreibtisch und der Lampe in der einen Ecke. Die Hände vor sich ausgestreckt, um sich durch einen Raum zu tasten, in dem es nichts zu tasten gab, fühlte er sich ein wenig wie ein Blinder. Da er die Entfernung leicht überschätzt hatte, stieß er einmal

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