Der Patient
Seite, wo er aber nichts weiter als einen Geburtstagsglückwunsch, die Reklame für ein Online-Partner-vermittlungsinstitut sowie eine dritte einspaltige Anzeige mit dem Wortlaut: BESONDERE GELEGENHEITEN, SIEHE SEITE B-16 entdecken konnte.
Frustriert schleuderte Ricky die Zeitung quer durch die Küche. Mit einem Geräusch wie ein Vogel, der mit einem gebrochenen Flügel zu fliegen versucht, klatschte sie an die Wand. Er war in Rage, schäumte geradezu vor Wut. Er hatte mit einem Vers gerechnet, einer weiteren kryptischen Antwort, die Spielchen mit ihm trieb, und zwar am unteren Rand der ersten Seite, genau wie seine Frage. Kein Gedicht, keine Antwort, fauchte er innerlich. »Wie soll ich deinen verfluchtenTermin einhalten, wenn du mir nicht pünktlich Antwort gibst?«, herrschte er denjenigen an, der, wenn auch nicht in physischer Gestalt, den Raum beherrschte.
Er merkte, dass ihm ein wenig die Hände zitterten, als er sich seinen Frühstückskaffee bereitete. Das heiße Getränk trug wenig zu seiner Beruhigung bei. Er versuchte es mit ein paar entspannenden Atemübungen, die zumindest seinen rasenden Herzschlag momentan verlangsamten. Er fühlte, wie der Zorn seinen ganzen Körper durchflutete, bis er unter der Haut jedes Organ erreichte und verkrampfte. Ihm pochten bereits die Schläfen, und in der Wohnung, die schon so lange sein Zuhause gewesen war, fühlte er sich wie in der Falle. Ihm tropfte der Schweiß aus den Achseln, seine Stirn fühlte sich fiebrig an, sein Hals so trocken wie Schmirgelpapier.
So musste er – äußerlich reglos, während er innerlich kochte – wie in Trance stundenlang dagesessen haben, ohne zu wissen, was er als Nächstes tun sollte. Er wusste, dass er Pläne machen, Entscheidungen fällen, in bestimmte Richtungen aktiv werden musste, doch das Ausbleiben der erwarteten Antwort paralysierte ihn. Er glaubte, sich nicht rühren zu können, als wären ihm von einem Moment auf den anderen sämtliche Gelenke in Armen und Beinen wie abgestorben, so dass sie auf keinen Befehl reagierten.
Ricky hatte keine Ahnung, wie lange er so verharrt hatte, bevor er den Blick kaum merklich hob, so dass er auf den Zeitungshaufen fiel, der immer noch auf dem Boden lag. Auch hätte er nicht sagen können, wie lange er auf die zerzausten Seiten gestarrt hatte, bevor ihm der kleine rote Streifen ins Auge sprang, der ihm von unten aus dem Papierchaos entgegenleuchtete. Oder wieviel Zeit es kostete, bis er diese Abweichung von der Normalität – nicht umsonst wurde die
Times
Gray Lady genannt – auf sich selbst bezog. Er fixierte diesenkleinen, farbigen Streifen und sagte sich endlich: Es gibt keinen knallroten Druck in der
Times
. Durchweg sattes Schwarzweiß in sieben Kolumnen, Zwei-Sektionen-Format, so verlässlich wie ein Uhrwerk. Selbst die Farbfotos vom Präsidenten oder von Models, die die neueste Pariser Mode vorführten, schienen automatisch die triste Tönung der ehrwürdigen Tradition anzunehmen.
Ricky zog sich aus dem Sessel hoch und durchquerte das Zimmer, um sich über das Durcheinander zu beugen. Er griff nach dem Farbtupfer und zog die Seite heraus.
Es war B-16, die Seite mit den Todesanzeigen.
Doch in grell-roter Tinte stand quer über die Bilder, Nachrufe und Todesanzeigen geschrieben, folgender Wortlaut:
Du bist auf dem richtigen Gleis,
Zwanzig Jahre sind schon mal heiß.
Meine Mutter ist der besagte Fall.
Mit ihrem Namen hast du die Qual der Wahl,
Wenn ich dich zappeln lasse.
Deshalb, auch wenn ich dich hasse,
Fürs erste einmal nur dies:
Sie war Fräulein, als sie so hieß.
Und danach, was will man machen,
Hörtest du sie nie mehr lachen.
Viel versprochen, nichts gehalten,
Aus diesem Grund muss Rache walten.
Als ihr Sohn,
Mach ich das schon.
Vater weg, Mutter tot:
Deshalb seh ich rot.
Dir bleibt nur wenig Zeit,
Sei allzeit bereit.
Unter dem Gedicht stand ein großes rotes R, und darunter wiederum hatte der Mann in schwarzer Tinte eine Todesanzeige mit einem Kästchen markiert und das Gesicht des Toten sowie seinen Nachruf mit einem Pfeil. Daneben standen die Worte:
Das passt perfekt auf dich.
Er starrte auf das Gedicht und die Botschaft, die es enthielt. Aus einem Augenblick wurden Minuten und schließlich fast eine Stunde, in der er sich jedes Wort einzeln zu Gemüte führte, so wie sich ein Feinschmecker ein gutes Essen in Paris auf der Zunge zergehen lässt, nur dass Ricky die Suppe gründlich versalzen war. Der Vormittag war schon recht weit fortgeschritten, ein
Weitere Kostenlose Bücher