Der Patient
»Schon jetzt haben Sie eine Reihe schwerer Verbrechen begangen, angefangen mit dem vermutlichen Mord an Roger Zimmerman …«
»Die Polizei hat den Fall bereits als Selbstmord abgeschlossen …«
»Sie haben einen Mord wie Selbstmord aussehen lassen. Davon bin ich überzeugt.«
»Nun ja, wenn Sie so stur sein wollen, meinetwegen. Ich dachte nur, es gehörte zu den Markenzeichen Ihres Berufs, für verschiedene Möglichkeiten offen zu sein.
Ricky überhörte diesen Seitenhieb und spann seinen Gedanken weiter, »… bis zu Raub und Betrug …«
»Oh, ich bezweifle, dass sich das irgendwie beweisen lässt. Wie heißt es noch so schön?
Esse est percipi
, was keiner weiß,macht keinen heiß. Wenn es keine Beweise dafür gibt, hat dann überhaupt ein Verbrechen stattgefunden? Und falls es doch einen Beweis gibt, dann irgendwo da draußen im Cyberspace, genau da, wo auch Ihre Gelder rumschwirren …«
»Ganz zu schweigen von Ihrer kleinen Verleumdungskampagne mit den getürkten Briefen an die Psychoanalytic Society. Das waren Sie, nicht wahr? Sie haben diesen Volltrottel oben in Boston mit dieser Geschichte, die Sie sich da ausgeheckt haben, an der Nase rumgeführt. Haben Sie sich für den auch ausgezogen …?«
Virgil strich sich wieder das Haar aus dem Gesicht und lehnte sich ein wenig auf ihrem Stuhl zurück. »Musste ich gar nicht. Der ist der Typ von Mann, der sich wie ein kleiner Welpe benimmt, wenn man mit ihm schimpft. Legt sich gleich unterwürfig auf den Rücken und winselt. Ist es nicht bemerkenswert, was mancher so alles glaubt, wenn er es nur glauben will?«
»Ich werde meinen Ruf wiederherstellen«, sagte Ricky grimmig.
Virgil grinste. »Dafür müssen Sie erst mal am Leben bleiben, und im Moment hege ich da so meine Zweifel.«
Ricky antwortete nicht, da auch er seine Zweifel hegte. Er schaute auf und sah die Kellnerin mit ihrem Essen kommen. Sie stellte die Teller ab und fragte, ob sie ihnen sonst noch etwas bringen könne. Virgil wollte ein zweites Glas Wein, Ricky schüttelte nur den Kopf.
»Das ist gut«, sagte Virgil, als die Kellnerin ging. »Einen klaren Kopf bewahren.«
Einen Augenblick stocherte Ricky in dem Essen herum, dessen Dampf ihm in die Nase stieg. »Wieso«, fragte er abrupt, »wieso helfen Sie diesem Mann? Wieso hören Sie nicht mit all diesen idiotischen Täuschungsmanövern auf und gehen mitmir zur Polizei? Wir können diesem Spiel augenblicklich ein Ende setzen, und ich würde dafür sorgen, dass Sie so was Ähnliches wie ein normales Leben zurückbekommen. Kein Strafverfahren. Ich könnte dafür sorgen.«
Virgil hatte den Blick ebenfalls auf ihr Essen gerichtet und wühlte mit der Gabel in dem Berg Pasta und dem Stück Lachs herum. Als sie den Kopf hob, konnten ihre Augen den Zorn kaum verbergen.
»Sie sorgen dafür, dass ich zu einem normalen Leben zurückkehren kann, ja? Sind Sie ein Zauberer? Und überhaupt, was, bitte schön, soll an einem normalen Leben so großartig sein?«
Er überhörte die Frage und machte weiter. »Wenn Sie nicht kriminell sind, wieso helfen Sie dann einem Kriminellen? Wenn Sie nicht sadistisch sind, wieso arbeiten Sie dann für einen Sadisten? Wenn Sie selber nicht psychopathisch sind, wieso tun Sie sich dann mit einem Psychopathen zusammen? Und wenn Sie kein Killer sind, wieso helfen Sie dann jemandem dabei, einen Mord zu begehen?«
Virgil starrte ihn nur weiter an. All die exzentrische Unbeschwertheit und das lebhafte Temperament wichen plötzlich frostiger Härte, die eisig über den Tisch wehte. »Vielleicht, weil ich gut bezahlt werde«, sagte sie langsam. »Heutzutage gibt es eine Menge Leute, die für Geld alles tun würden. Können Sie sich das bei mir vorstellen?«
»Nur schwer«, antwortete Ricky vorsichtig, wenngleich wohl eher das Gegenteil stimmte.
Virgil schüttelte den Kopf. »Demnach möchten Sie Geld als mein Motiv nicht gelten lassen, auch wenn ich nicht sicher bin, ob das klug von Ihnen ist. Vielleicht ein ganz anderes Motiv? Welche kämen für mich denn noch infrage? Da sollten Sie sich doch auskennen. Umschreibt ›Suche nach Motiven‹nicht ziemlich gut, was Sie tun? Und ist nicht genau das Bestandteil der kleinen Übung, die wir durchspielen? Also, kommen Sie schon, Ricky. Wir haben jetzt zwei Sitzungen miteinander gehabt. Wenn nicht das Geld, was könnte sonst mein Motiv sein?«
Ricky starrte die junge Frau unverwandt an. »Ich weiß nicht genug über Sie …«, sagte er lahm. Sie legte Messer und Gabel mit einer
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