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Der Patient

Titel: Der Patient Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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anderen, die Ricky kannte, nicht weiter unterschied. Sie reichte ihm den Brief über den Tisch. »Machen Sie auf«, sagte sie. »Der ist voller Motivation.«
    Er öffnete den Verschluss. In dem Umschlag befand sich ein halbes Dutzend Schwarzweiß-Fotos im Format zwanzig mal fünfundzwanzig. Er zog sie heraus und sah sie sich an. Es waren jeweils zwei Bilder von insgesamt drei Objekten. Bei den ersten handelte es sich um Aufnahmen von einem jungen Mädchen, vielleicht sechzehn oder siebzehn Jahre alt, das ein schweißgetränktes T-Shirt zur blauen Jeans und einen Zimmermanns-Ledergürtel um die Taille trug, dazu einen großen Hammer in der Hand. Sie schien auf einer Baustelle zu arbeiten. Auf den nächsten beiden Fotos war ein anderes, jüngeres Kind, ein Mädchen von vielleicht zwölf Jahren, das im Bug eines Kanus saß und in einer bewaldeten Gegend über einen See paddelte. Das erste Foto schien ein wenig körnig, das zweite, offenbar mit einem extrem scharfen Teleobjektiv aus einiger Entfernung geschossen, war eine Großaufnahme, nah genug, um im Mund des vor Anstrengung grinsenden Mädchens die Zahnspange erkennen zu lassen. Dann kam die dritte Reihe, Bilder von einem anderen Teenager, einem Jungen mit recht langem Haar und einem unbekümmerten Lächeln, der neben einem Straßenverkäufer – auf einer Straße in Paris? – posierte.
    Alle sechs Aufnahmen schienen ohne das Wissen der Abgelichteten entstanden zu sein. Es war offensichtlich, dass die jungen Leute von den Schnappschüssen nichts mitbekommen hatten.
    Ricky sah sich die Fotos genau an, dann blickte er zu Virgil auf. Ihr Lächeln war verflogen.
    »Kommt Ihnen einer von denen bekannt vor?«, fragte sie kalt. Er schüttelte den Kopf.
    »Sie leben derart isoliert, Ricky. Das macht die ganze Sache so verdammt einfach. Sehen Sie genauer hin. Wissen Sie wirklich nicht, wer die drei sind?«
    »Nein, weiß ich nicht.«
    »Das sind drei entfernte Verwandte von Ihnen. Jedes dieser Kinder steht auf der Liste mit Namen, die Mr. R. Ihnen zu Beginn des Spiels zugeschickt hat.«
    Ricky sah noch einmal hin.
    »Paris, Frankreich, Habitat for Humanity in Honduras und Lake Winnipesaukee in New Hampshire. Drei Jugendliche in den Sommerferien. Genau wie Sie.«
    Er nickte.
    »Sehen Sie, wie schutzlos sie sind? Meinen Sie, es war schwer, diese Aufnahmen zu machen? Wäre es denkbar, die Kamera gegen ein Gewehr oder eine Pistole zu tauschen? Können Sie sich vorstellen, wie einfach es wäre, eins dieser Kinder aus seiner heilen Ferienwelt zu reißen, die sie gerade genießen? Meinen Sie, eins von denen hat auch nur die geringste Ahnung, wie nahe es möglicherweise dem Tode ist? Glauben Sie, eins von denen hat auch nur die geringste Vorstellung davon, dass in sieben Tagen das Leben einfach so ein blutiges, kreischendes Ende nehmen könnte?«
    Virgil zeigte auf die Fotos.
    »Schauen Sie ruhig noch mal hin, Ricky«, sagte sie, während sich ihm die Bilder ins Gedächtnis einbrannten. Dann griff sie über den Tisch, um sie ihm aus der Hand zu nehmen. »Ich denke, es genügt, dass Sie die Porträts im Kopf behalten, Ricky. Prägen Sie sich ihr Lachen ein. Versuchen Sie, daran zu denken, wie sie auch künftig, wenn sie erwachsen werden, noch etwas zu lachen haben. Was für ein Leben sie wohl einmal führen werden? Wollen Sie eins von denen – oder ein anderes Kind wie diese hier – um seine Zukunft bringen, indem Sie an Ihren eigenen erbärmlichen paar Jährchen hängen, die Sie vielleicht noch haben?«
    Virgil schwieg, dann schnappte sie ihm die Fotos mit schlangenhafterGeschwindigkeit aus der Hand. »Die nehme ich wieder mit«, sagte sie und steckte die Bilder in ihre Mappe zurück. Sie schob ihren Stuhl vom Tisch zurück und ließ zugleich einen Hundert-Dollar-Schein auf ihren halb abgegessenen Teller fallen. »Sie haben mir den Appetit verdorben«, sagte sie. »Aber da ich weiß, dass sich Ihre finanzielle Lage verschlechtert hat, bezahle ich das Essen.«
    Sie drehte sich zur Kellnerin um, die an einem Nachbartisch bereit stand. »Haben Sie Schokotorte?«, fragte sie.
    »Eine Schoko-Käsetorte«, erwiderte die Frau. Virgil nickte.
    »Bringen Sie meinem Freund hier ein Stück«, sagte sie. »Sein Leben hat mit einem Mal einen bitteren Beigeschmack bekommen, und er braucht ein bisschen was Süßes, um die nächsten Tage durchzustehen.«
    Damit machte sie auf dem Absatz kehrt und ließ Ricky allein zurück. Er griff nach einem Glas Wasser und merkte, dass seine Hand ein wenig

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