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Der Patient

Titel: Der Patient Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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es fast leichter, sich an die Beschwerden zu erinnern. Jedes Bild von einer Patientin, jedes Detail über ihre Behandlung schrieb er auf. Die Erinnerungen waren immer noch ungeordnet und zusammenhangslos, waren beliebig und ineffizient, aber ein Fortschritt, sagte er sich, war es schon.
    Als er aufblickte, sah er, dass sich Schatten über das Zimmer gelegt hatten. In seinem halbwachen Zustand war ihm der Tag zwischen den Fingern zerronnen. Auf den gelben Seiten seines Blocks hatte er zwölf verschiedene Erinnerungen aus der fraglichen Zeitspanne notiert. Mindestens achtzehn Frauen waren bei ihm in Behandlung gewesen. Das war zu bewältigen, doch es machte ihm zu schaffen, dass es mehr geben musste, bei denen er wohl eine Blockade hatte, so dass er sich nicht auf Anhieb erinnern konnte. Er wusste nur die Hälfte der Namen von denen, die ihm eingefallen waren. Und das auch nur bei den Langzeitpatienten. Er konnte das Gefühl nicht loswerden, dass Rumpelstilzchens Mutter jemand war, den er nur kurz behandelt hatte.
    Gedächtnis und Erinnerung waren wie Rickys Beziehungen. Aus jetziger Sicht flüchtig und unbeständig.
    Als er aufstand, waren ihm vom langen Sitzen in derselben Haltung die Glieder steif geworden, und er fühlte einen dumpfen Schmerz im Nacken und in den Knien. Er streckte sich langsam, beugte sich vor und rieb sich eins der widerspenstigen Knie, um es zu durchbluten und wiederzubeleben. Ihm wurde bewusst, dass er an diesem Tag noch nichts gegessen hatte, nicht einen einzigen Bissen, und dass er Hunger hatte. Er wusste, dass seine Küche kaum etwas hergab, und er sah aus dem Fenster in den fortgeschrittenen Abend über der Stadt und wusste, dass er sich etwas besorgen musste. Die Vorstellung, seinen schützenden Bau zu verlassen, dämpfte seinen Hunger und ließ seinen Hals trocken werden.
    Ihm kam ein seltsamer Gedanke: Es hatte in seinem Leben so wenig Ängste gegeben, so wenig Zweifel. Jetzt machte ihm schon der simple Schritt vor seine Wohnungstür zu schaffen. Doch er stählte sich gegen solch unerwünschte Bedenken und beschloss, zwei Häuserblocks nach Süden zu einer kleinen Bar zu laufen, wo er sich ein Sandwich besorgen konnte. Er wusste nicht, ob er beobachtet wurde – die Frage ließ ihn nicht mehr los –, befahl sich aber, so zu tun, als wäre nichts. Außerdem, sagte er sich, hatte er Fortschritte gemacht.
    Die Hitze des Tages schlug ihm vom Bürgersteig wie aus einem Gasofen entgegen. Den Blick soldatisch geradeaus gerichtet, marschierte er zügig voran. Der Imbiss, zu dem er wollte, befand sich in der Mitte eines Blocks und hatte im Sommer ein halbes Dutzend kleine Tische auf dem Bürgersteig, während es drinnen eng und düster war, mit einer Bar an der einen Wand und zehn Tischen, die dicht gedrängt den spärlichen Platz ausfüllten. An den Wänden prangte eine ungewöhnliche Mischung an Dekorationen, von Sportandenkenbis zu Broadwayplakaten sowie Bildern von Filmdiven und ihren männlichen Kollegen nebst dem einen oder anderen Politiker. Es schien, als ob das Lokal sich nicht recht entscheiden konnte, wohin es gehörte und wem es Stammkneipe sein wollte, und sich daher anstrengte, eine bunte Schar von Gästen mit einem entsprechenden Mischmasch zufrieden zu stellen. Doch wie bei so vielen kleinen Bars und Restaurants in Manhattan brachte die bescheidene Küche einen durchaus passablen Hamburger und ein ebenso schmackhaftes Reuben-Sandwich zustande, die ebenso wie die gelegentlich angebotenen Pastagerichte auch noch relativ preiswert waren, ein Vorzug, der Ricky erst zu Bewusstsein kam, als er über die Schwelle trat. Er besaß keine gültige Kreditkarte mehr, und seine Bargeldreserven waren ziemlich dürftig. Künftig musste er daran denken, seine Travellerschecks mitzunehmen.
    Drinnen war es schummrig, und er blinzelte ein paarmal, bis sich seine Augen an das Dunkel gewöhnten. An der Bar saßen einige Gäste, und ein, zwei Tische waren frei. Eine Kellnerin im mittleren Alter wurde auf ihn aufmerksam, als er unschlüssig stehen blieb. »Was zum Abendessen, Schätzchen?«, fragte sie in einem plump vertraulichen Ton, der die sonstige Anonymität in der Kneipe störte.
    »Ja, genau«, sagte er.
    »Nur für Sie?«, fragte sie. Dabei machte der Tonfall klar, dass die Frage rhetorisch zu verstehen war, da er schließlich jeden Abend alleine aß, sie sich aber an die Gepflogenheiten hielt, die vielleicht auf dem Lande üblich waren.
    »Auch richtig.«
    »Wollen Sie an der Bar sitzen oder

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