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Der Patient

Titel: Der Patient Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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zitterte, so dass die Eiswürfel klirrten.
     
    In nahezu vollkommener Isolation ging er nach Hause.
    Die ganze Welt um ihn herum erschien ihm wie eine einzige Rüge, eine ständige Tantalusqual im täglichen Handel und Wandel menschlicher Existenz. Auf dem Weg zu seiner Wohnung hatte er fast das Gefühl, unsichtbar zu sein. Auf seltsame Weise fühlte sich Ricky beinahe transparent. Niemand, der vorbeiging oder -fuhr, nicht einer, dessen Blick ihn streifte, würde ihn auch nur registrieren. Sein Gesicht und seine übrige Gestalt, seine Person war für alle außer seinem Verfolger vollkommen uninteressant, sein Tod hingegen für einen fernen Verwandten von entscheidender Bedeutung. Rumpelstilzchen und stellvertretend Virgil sowie Anwalt Merlin, vielleicht auch noch ein paar Typen, denen er noch nicht begegnet war, waren die Brücke zwischen Leben und Sterben. Rickyhatte das Gefühl, als sei er in das Fegefeuer jener Menschen gestürzt, denen der Arzt die schlimmste Diagnose oder der Richter das Datum ihrer Hinrichtung mitteilt. Eine Wolke der Verzweiflung braute sich über ihm zusammen, und er fühlte sich an die berühmte Comic-Figur aus seiner Jugend erinnert, Al Capps grandiose Gestalt des Joe Bflspk, der dazu verurteilt ist, unter einer persönlichen Regenwolke einherzuschreiten, aus der ständig der Regen auf ihn heruntertropft und, wo er geht und steht, die Blitze zucken.
    Die Gesichter der drei jungen Leute auf den Fotos verfolgten ihn wie Geister – durchscheinend wie Nebeldunst. Er wusste, dass er ihnen Substanz verleihen musste, damit sie für ihn reale Gestalt annahmen. Er wünschte sich, wenigstens ihre Namen zu kennen, und wusste, dass er etwas unternehmen musste, um sie zu schützen. Während er sich ihre Züge ins Kurzzeitgedächtnis einprägte, beschleunigte er seine Schritte. Er sah die Zahnspange in diesem Lächeln, das lange Haar, den Schweiß von der körperlichen Anstrengung, und als er jedes Foto so deutlich vor sich sah wie in dem Augenblick, als Virgil es ihm vor die Nase gehalten hatte, spannten sich seine Muskeln, und er fing zu laufen an. Er hörte, wie seine Schuhe auf dem Pflaster des Bürgersteigs klatschten, und es erschien ihm, als käme das Geräusch von irgendwo außerhalb seines Lebens, bis er auf seine Füße schaute und feststellte, dass er beinahe rannte. Die Begegnung hatte in ihm etwas losgetreten, und er wehrte sich nicht länger gegen dieses Gefühl, das neu für ihn war, auch wenn jeder, der beiseite trat, um ihn vorbeizulassen, die ausgewachsene Panikattacke unschwer in seinem Gesicht erkennen musste.
    Ricky rannte, bis sein Atem rasselte und keuchte. Ein Block, der nächste, ohne anzuhalten, so dass ihm ein Schwall von Taxihupen und üblen Flüchen folgte, als er wie blind und taubweiterrannte. Er hatte nur Bilder vom Sterben im Kopf. Erst als er den Eingang zu seinem Gebäude schon vor sich sah, drosselte er das Tempo. Er blieb stehen, rang vorgebeugt nach Luft und fühlte den brennend sauren Schweiß in den Augen. Eine ganze Weile, vielleicht minutenlang, blieb er reglos stehen und rang nach Luft, während er alles außer der Hitze, dem Stechen in der Brust und dem Geräusch seines Atems aus seiner Wahrnehmung verbannte.
    Als er den Blick irgendwann hob, dachte er: Ich bin nicht allein.
    Dieser Moment unterschied sich im Prinzip nicht sehr von den anderen in den vergangenen Tagen, als ihn dasselbe Gefühl überkommen hatte. Es war geradezu vorhersehbar und ein klarer Fall von Paranoia. Ricky versuchte, sich in den Griff zu bekommen, dem Druck nicht nachzugeben, fast so, als wehrte er sich gegen eine heimliche Leidenschaft, ein starkes Verlangen nach einer Zigarette oder Schokolade. Es gelang ihm nicht.
    Er fuhr herum und versuchte, seinen Verfolger auszumachen, obwohl er wusste, wie nutzlos das war. Sein Blick irrte von möglichen Kandidaten, die gemächlich die Straße entlangschlenderten, zu leeren Fenstern in nahegelegenen Gebäuden. In der Hoffnung, irgendeine Bewegung zu registrieren, mit der sich sein gedungener Verfolger verriet, wirbelte er in alle Richtungen, doch die Chancen waren äußerst gering.
     
    Als Ricky sich wieder zu seinem Gebäude umdrehte, hatte er das sichere Gefühl, dass jemand in seiner Wohnung gewesen war, während er mit Virgil gesprochen hatte. Er machte einen Satz nach vorn und blieb ruckartig stehen. Unter Aufbietung aller Willenskraft bezwang er die Emotionen, die in ihm tobten, befahl sich, Ruhe zu bewahren und seine fünf Sinne

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