Der Patient
lustig zu machen?Um sein Spiel vielleicht noch ein bisschen mit Folterqualen anzureichern?«
»Das ist das erste Mal, dass meine Gesellschaft jemandem Folterqualen bereitet«, sagte Virgil mit gespieltem Unschuldsblick. »Ich hätte mir doch erhofft, dass Sie sie, wenn schon nicht als angenehm, so doch immerhin als interessant empfinden. Und denken Sie mal an Ihren eigenen Status, Ricky. Sie sind allein hierher gekommen, alt, nervös, voller Zweifel und Ängste. Die einzigen Leute, die auch nur in Ihre Richtung gestarrt haben, die haben eine Anwandlung von Mitleid empfunden und sich dann wieder dem Essen und Trinken gewidmet und den alten Mann, der Sie inzwischen geworden sind, schon vergessen. Das ändert sich schlagartig, sobald ich Ihnen gegenübersitze. Auf einmal sind Sie nicht mehr so vorhersagbar, hab ich recht?« Virgil lächelte. »Gibt Schlimmeres, oder?«
Ricky nickte kaum merklich. Sein Magen hatte sich zu einem festen Klumpen verkrampft, und ein saurer Geschmack lag ihm auf der Zungenwurzel. »Mein Leben …«, setzte er an.
»Ihr Leben hat sich verändert. Und wird sich weiter verändern. Zumindest ein paar Tage noch. Und dann … na ja, da liegt der Hase im Pfeffer, nicht wahr?«
»Sie genießen das hier, stimmt’s?«, fragte Ricky unvermittelt.
»Mich leiden zu sehen. Irgendwie seltsam, weil ich Sie nicht für eine solch obsessive Sadistin gehalten hätte. Ihren Mr. R. vielleicht, aber von dem kann ich mir noch kein genaues Bild machen, der ist mir immer noch ein bisschen fremd. Nimmt aber schon Gestalt an, würde ich sagen. Aber Sie, Miss Virgil, bei Ihnen wäre ich nicht auf einen entsprechenden pathologischen Befund gekommen. Natürlich kann ich mich da irren. Und darum geht es ja bei dem Ganzen, nicht wahr? Um einen solchen Irrtum meinerseits, hab ich Recht?«
Ricky trank sein Wasser in kleinen Schlucken und wartete in der Hoffnung, die Frau würde den Köder schlucken. Für einen Moment sah er, wie sich Virgils Augenwinkel in kleine Fältchen legten, dazu ein kaum merkliches, unheilvolles Zucken um den Mund. Doch dann hatte sie sich augenblicklich wieder im Griff und wedelte mit dem halb gegessenen Brötchen verächtlich zwischen ihnen beiden in der Luft.
»Sie scheinen nicht ganz zu verstehen, welche Rolle ich bei der Sache spiele, Ricky.«
»Dann erklären Sie sie mir eben noch mal.«
»Jeder braucht einen Führer auf dem Weg in die Hölle, Ricky. Das habe ich Ihnen schon mal gesagt.«
Ricky nickte. »Ich entsinne mich.«
»Jemanden, der Sie um die Felsgestade und versteckten Sandbänke navigiert.«
»Und Sie sind dieser Jemand, ich weiß. Sagten Sie bereits.«
»Nun, sind Sie denn schon in der Hölle, Ricky?«
Er zuckte die Achseln, um sie wütend zu machen, doch ohne Erfolg.
Sie grinste. »Vielleicht klopfen Sie gerade erst an die Pforte, Ricky.«
Er schüttelte den Kopf, doch sie ignorierte die trotzige Geste.
»Sie sind ein stolzer Mann, Doktor Ricky. Es bereitet Ihnen Qualen, die Kontrolle über Ihr Leben zu verlieren, oder? Viel zu stolz. Und wir alle wissen ja, was nach dem Hochmut kommt. Der Wein ist übrigens gar nicht schlecht. Vielleicht probieren Sie mal ein Schlückchen.«
Er nahm das Weinglas in die Hand, hob es an die Lippen, fragte aber, statt zu trinken: »Sind Sie glücklich, Virgil? Glücklich mit Ihren kriminellen Machenschaften?«
»Wie kommen Sie darauf, dass ich etwas Kriminelles getan hätte, Doktor?«
»Alles, was Sie und Ihr Auftraggeber getan haben, ist kriminell. Alles, was Sie geplant haben, ist kriminell.«
»Meinen Sie wirklich? Und ich dachte, Sie kennen sich nur mit Schickimicki-Neurosen und den Ängsten der oberen Mittelschicht aus. In den letzten Tagen haben Sie allerdings eine gewisse forensische Ader in sich entdeckt, könnte ich mir denken.«
Ricky schwieg. Normalerweise spielte er sein Blatt ganz anders aus. Der Analytiker verteilt die Karten bedächtig und lotet die Reaktionen aus, versucht Schneisen zu schlagen, die zu verschütteten Erinnerungen führen. Aber er hatte so wenig Zeit, und während er einen Moment beobachtete, wie die junge Frau ihm gegenüber die Sitzhaltung wechselte, sah er gewisse Anzeichen dafür, dass diese Begegnung nicht ganz so verlaufen würde, wie der chimärenhafte Mr. R. es sich vorgestellt hatte. Mit einer gewissen Genugtuung registrierte er, dass er den geplanten Ausgang der Dinge ein wenig durcheinander brachte, und wenn auch nur in bescheidenem Maße. »Sicher«, sagte er ruhig, aber bestimmt.
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