Der Patient
mittleren Alter mit einer Meute von drei Kindern, die Mühe hatte, gegenüber einem kleinen, blonden Jungen nicht die Geduld zu verlieren; zwei gehetzt wirkende Geschäftsmänner, die ihre Handys zückten, noch bevor sie das Bahnhofsgebäude erreicht hatten. Kein Einziger der Reisenden sah auch nur einmal zu Ricky herüber. Nur der kleine Junge blieb vor ihm stehen und schnitt eine Fratze, um im nächsten Moment vom Bahnsteig aus die lange Treppe hinaufzustürmen. Ricky wartete, bis der Zug sich erst langsam, dann schneller mit metallischem Kreischen in Bewegung setzte. Als er sich endlich davon überzeugt hatte, dass sonst niemand mehr ausgestiegen war, folgte Ricky den anderen zum Bahnhof. Indem alten Backsteingebäude hallten seine eiligen Schritte vom Fliesenboden wider, während die kühle Luft der Spätnachmittagshitze trotzte. Auf einem einsamen Schild mit rotem Pfeil über einer breiten Flügeltür stand: TAXIS. Er verließ das Gebäude und konnte nur eine einzige, schmuddelig weiße Limousine entdecken, die neben der Taxilizenz an der Seite und dem unbeleuchteten Emblem auf dem Dach eine Beule in einem der vorderen Kotflügel zierte. Der Fahrer warf gerade den Motor an, als er Ricky erspähte und scharf rechts an den Bordstein fuhr.
»Brauchen Se ’n Taxi?«
»Ja, bitte«, erwiderte Ricky.
»Na denn, ich bin der Letzte hier. Gerade drauf und dran zu fahren, als ich Sie durch die Tür spazieren seh. Springen Sie rein.«
Ricky folgte der Aufforderung und gab dem Mann die Anschrift von Dr. Lewis.
»Aha, Top-Adresse«, sagte der Fahrer und gab so kräftig Gas, dass die Reifen sich ein wenig beklagten, als sie das Bahnhofsgelände verließen.
Die Fahrt zum Haus des alten Psychoanalytikers führte sie auf eine schmale, zweispurige Straße, die sich durch die Landschaft wand. Stattliche Eichen bildeten einen Baldachin über der Fahrbahn, und das letzte sommerabendliche Licht schien wie Mehl durch ein Sieb gemächlich durch die Schatten links und rechts zu rieseln. Die Hügelketten zogen sich in sanften Wellen dahin wie die Dünung auf dem stillen Meer. Auf einigen Feldern standen Pferde in Gruppen zusammen, und in der Ferne ragten große, imposante Villen auf. Die näher zur Straße gelegenen Anwesen waren antik, oft Schindelbauten, und von den kleinen, auffällig platzierten Schildern war das Baujahr abzulesen, so dass jeder, der vorbeikam, erfuhr, dasser ein Haus aus dem Jahr 1788 oder 1902 vor Augen hatte. In mehr als einem farbenfrohen Blumengarten saß ein Eigentümer rittlings auf einem kleinen Traktor-Rasenmäher und schnitt eine makellose grüne Schneise in den Rasen. Es war eine Gegend für Eskapisten, dachte er. Er vermutete, dass das eigentliche Leben der meisten Bewohner in den Straßenfluchten von Manhattan angesiedelt war, wo sie es sich mit Geld, Macht oder Prestige und recht häufig mit allen dreien erarbeiteten. Das hier waren Wochenendhäuser und Fluchtburgen für den Sommer, schwindelerregend teuer, dafür mit echtem Grillenzirpen bei Nacht.
Der Taxifahrer sah, wie er die Blicke schweifen ließ und sagte: »Nicht schlecht, was? Paar von den Hütten kosten echt Geld.«
»Und am Wochenende bekommt man in keinem Restaurant mehr einen Platz, möchte ich wetten«, erwiderte Ricky.
»Im Sommer oder so um die Ferienzeit, da liegen Sie richtig. Aber sind ja nicht alle Stadtpflanzen. Paar von denen schlagen hier echt Wurzeln. So gerade genug, dass es keine Geisterstadt wird. Ist ’n schönes Fleckchen Erde.« Er drosselte das Tempo und bog in eine Einfahrt ab. »Das Problem is eben, dass es für New York zu gut zu erreichen ist«, sagte er.
Dr. Lewis’ Heim gehörte zu den alten, renovierten Farmhäusern, ein schlichter, zweistöckiger Bau im Cape-Stil. Auf dem strahlend weißen Anstrich prangte eine Plakette, auf der 1791 stand.
Es war keineswegs das größte der Domizile, an denen Ricky vorbeigekommen war. Es war mit einem weinüberwucherten Spalier geschmückt, am Eingang waren Blumen gepflanzt, ein kleiner Fischteich schimmerte am Rand des Gartens. Eine Hängematte sowie einige Adirondack-Gartenstühle, an denen die weiße Farbe abblätterte, befanden sich seitlich davon.
Vor einem ehemaligen Stall, der nunmehr als Garage diente, parkte ein zehn Jahre alter blauer Volvo-Kombi.
Das Taxi fuhr hinter ihm wieder ab, und Ricky blieb vor dem Kiesweg stehen. Ihm wurde plötzlich nur allzu bewusst, dass er mit leeren Händen kam. Er hatte keine Tasche, nicht einmal ein kleines Geschenk oder
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