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Der Patient

Titel: Der Patient Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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auch nur die übliche Flasche mittelteuren Weißwein dabei. Er kämpfte mit einer Flut widerstreitender Emotionen und atmete heftig ein. Angst war vielleicht nicht der richtige Ausdruck für das, was er empfand, sondern eher das Gefühl eines Kindes, das seinen Eltern eine Übertretung zu beichten hat. Ricky wollte über sich selbst schmunzeln, denn wie er sehr wohl wusste, ist die Beziehung zwischen Analytiker und Analysant tiefgreifend, provozierend und in mancherlei Hinsicht mit der zwischen einer Autoritätsperson und einem Kind zu vergleichen, so dass er sich für seine bleiernen Füße und den beschleunigten Puls nicht zu schämen brauchte. Dies alles gehörte nun einmal zum Übertragungsprozess, bei dem der Analytiker nach und nach unterschiedliche Rollen übernimmt, die allesamt zum Verständnis beitragen. Dennoch, dachte Ricky, haben nicht viele Ärzte eine solche Wirkung auf ihre Patienten. Ein Orthopäde würde sich nach so vielen Jahren und so vielen Operationen wohl nicht einmal mehr an das betreffende Knie oder Hüftgelenk erinnern. Da der menschliche Geist aber nun einmal etwas differenzierter, wenn auch nicht immer so funktionstüchtig ist wie ein Knie, wird sich der Analytiker vermutlich noch an das Meiste erinnern.
    Er ging langsam weiter und betrachtete aufmerksam den Eingang, um möglichst alles in sich aufzunehmen. Er rief sich eine weitere Grundkonstellation der Analyse ins Bewusstsein; der Arzt kennt praktisch jede emotionale und sexuelle Intimität des Patienten, der seinerseits nahezu nichts über denTherapeuten weiß. Diese Geheimnisstruktur ahmt gewissermaßen die Beziehungsmuster im wirklichen Leben und in der Familie nach, und das Vordringen in unbekannte Gefilde geht stets mit einer Mischung aus Beklommenheit und Faszination einher.
    Dr. Lewis weiß viel über mich, dachte Ricky, und jetzt werde ich etwas über ihn erfahren, was die Sachlage ein wenig verändert. Die Überlegung brachte ihn ein wenig ins Schwitzen. Als er noch auf halbem Wege zur Eingangstreppe war, ging die Haustür auf. Er hörte die Stimme, bevor er den Mann zu sehen bekam. »Ein bisschen unbehaglich, möchte ich wetten.«
    »Sie können Gedanken lesen«, erwiderte Ricky mit einem altbekannten Analytiker-Witz.
    Er wurde in ein Arbeitszimmer geleitet, das direkt an der Frontseite des alten Hauses lag. Er ertappte sich dabei, wie er sich in alle Richtungen umsah und sich jede Einzelheit einprägte. Bücher in einem Regal. Den Tiffany-Lampenschirm. Den Orientteppich. Wie viele alte Häuser war auch dieses hier im Gegensatz zu den strahlend weißen Außenwänden innen ein wenig dunkel; es wirkte kühl, nicht muffig, sondern frisch, als könnte es sich an die offenen Fenster und niedrigeren Temperaturen der letzten Nacht erinnern. Er roch einen zarten Fliederduft, während aus dem hinteren Bereich des Hauses Kochgeräusche kamen.
    Dr. Lewis war ein Mann von zartem Körperbau, mit leicht gebeugten Schultern, Glatze und Haarbüscheln, die ihm dreist aus den Ohren wucherten, was ihm ein unverwechselbares Aussehen verlieh. Seine Brille saß tief auf der Nase, so dass er nur selten durch die Gläser zu sehen schien. Seine Hände hatten ein paar Altersflecken und zitterten kaum merklich. Er ging langsam und hinkte dabei ein wenig. Schließlich ließ ersich in einen großen roten, prall gepolsterten Ledersessel fallen, während er Ricky das etwas kleinere Gegenstück einen Meter entfernt anbot. Ricky sank hinein.
    »Ich bin hoch erfreut, Sie wiederzusehen, Ricky, selbst nach so vielen Jahren. Wie lange ist das jetzt her?«
    »Mindestens zehn Jahre. Sie sehen gut aus …«
    Dr. Lewis grinste und schüttelte den Kopf. »Wir sollten wohl nicht mit einer so offensichtlichen Lüge anfangen, auch wenn man in meinem Alter eine Lüge weit mehr als die Wahrheit zu schätzen weiß. Die Wahrheit ist meist so verdammt unerfreulich. Ich bräuchte eine neue Hüfte, eine neue Blase, eine neue Prostata, je zwei neue Augen und Ohren und ein paar neue Zähne. Neue Füße könnten auch nicht schaden. Neues Herz wär vermutlich langsam fällig, aber ich bekomme nichts dergleichen. Könnte einen neuen Wagen in der Garage vertragen, und dem Haus täten neue Leitungen gut. Wenn ich drüber nachdenke, mir eigentlich auch. Das Dach dagegen ist noch in Ordnung.« Er tippte sich an die Stirn. »Meins auch.« Dann kicherte er. »Aber ich bin sicher, Sie haben mich nicht aufgespürt, um zu hören, wie’s mir geht. Ich vergesse meine beruflichen Prinzipien

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