Der Patient
Apparat.«
Ricky hatte die Stimme seit zwanzig Jahren nicht mehr gehört, und sie löste Gefühle in ihm aus, die ihn selbst erstaunten. Es war, als ob ein Sturzbach aus Angst und Hass, aus Liebe und Frustration in seinem Innern losbrach, so dass er nur mühsam Haltung bewahrte.
»Dr. Lewis, hier spricht Dr. Frederick Starks …«
Einen Moment lang schwiegen beide Männer, als wäre die plötzliche Wiederbegegnung am Telefon ein wenig zuviel für sie.
Dr. Lewis ergriff als erster das Wort. »Da hol mich doch der Teufel. Wie schön, von Ihnen zu hören, Ricky, auch nach so vielen Jahren. Ich kann’s kaum fassen.«
»Es tut mir leid, Dr. Lewis, so mit der Tür ins Haus zu fallen, aber ich wusste nicht, an wen ich mich sonst hätte wenden sollen.«
Wieder herrschte kurzes Schweigen.
»Sie sind in Schwierigkeiten, Ricky?«
»Ja.«
»Und die Mittel der Selbstanalyse sind unzulänglich?«
»Ja. Ich hatte gehofft, Sie könnten vielleicht ein bisschen Zeit für ein Gespräch erübrigen.«
»An sich praktiziere ich nicht mehr«, sagte Lewis. »Der Ruhestand. Das Alter. Die Zipperlein. Es ist schrecklich, alt zu werden. So vieles, was einem einfach entgleitet.«
»Kann ich zu Ihnen kommen?«
Der alte Mann überlegte. »Sie klingen ziemlich gehetzt. Es geht um etwas Ernstes? Sie haben schlimme Probleme?«
»Ich bin in großer Gefahr, und mir bleibt wenig Zeit.«
»Na, na, na.« Ricky sah förmlich das Lächeln im alten Gesicht des Psychoanalytikers. »Das klingt ja hochinteressant. Und Sie meinen, ich kann Ihnen helfen?«
»Ich weiß nicht, immerhin möglich.«
Der ältere Kollege ließ das erst einmal auf sich wirken, bevor er erwiderte: »Aus Ihnen spricht unser Berufsstand. Sie werden hier rauskommen müssen, fürchte ich. Habe keine Praxis mehr in Manhattan.«
»Und wo ist ›hier‹?«
»Rhinebeck«, sagte Dr. Lewis und nannte eine Adresse in der River Road. »Der ideale Ort, um seinen Ruhestand zu verbringen, außer dass es im Winter verdammt kalt und vereist ist. Um diese Zeit aber wunderschön. Sie können einen Zug von der Pennsylvania Station nehmen.«
»Wenn ich heute Nachmittag ankomme …«
»Ich empfange Sie, egal, wann Sie kommen. Das ist einer der wenigen Vorteile des Ruhestands. Dringende Termine sind höchst selten. Nehmen Sie sich vom Bahnhof aus ein Taxi, und ich erwarte Sie so um sieben, acht herum.«
Er ließ sich so weit hinten im Zug wie möglich mit einem knirschenden Geräusch in einen Ecksitz fallen und verbrachte den größten Teil des Nachmittags damit, aus dem Fenster zu starren. Der Zug fuhr genau nach Norden, immer am Hudson entlang, zuweilen so nah am Fluss, dass ihn nur wenige Meter vom Wasser trennten. Ricky saß da, starrte auf den breiten Strom und war wie gebannt von den unterschiedlichen Blaugrüntönen, die der Fluss annahm, von einem satten Grünschwarz dicht am Ufer bis zu einem helleren, lebendigeren Blau in der Mitte. Segelboote schnitten durch das Wasser und warfen weiße Gischtfontänen auf, während sich das eine oder andere Containerschiff durch die tiefste Fahrrinne wälzte. In der Ferne ragten, von dunkelgrünen Baumgruppen bekrönt, die Palisaden mit ihren graubraunen Felsspitzen in den Horizont. Herrschaftliche Villen waren in die weiten Rasenflächen eingestreut, Prachtbauten von einerGröße, die einen schier unvorstellbaren Reichtum bezeugte. Am West Point erhaschte er einen Blick auf die Militärakademie hoch oben über dem Fluss; die trutzigen, grauen Gebäude schienen so stramm zu stehen wie die uniformierte Phalanx der Kadetten. Der Hudson war breit und spiegelglatt, und Ricky konnte sich mühelos in den Entdecker hineinversetzen, der dem Fluss fünfhundert Jahre zuvor den Namen gegeben hatte. Eine Weile betrachtete er die Wasserfläche, ohne ganz sicher sagen zu können, in welche Richtung die Strömung verlief, ob nach New York in seinem Rücken und von dort ins Meer, oder, von den Gezeiten und der Erddrehung angetrieben, nach Norden. Es irritierte ihn ein wenig, dass er noch so lange auf die Oberfläche starren konnte, ohne die Zielrichtung zu wissen oder erraten zu können.
In Rhinebeck stieg nur eine Handvoll Fahrgäste aus, und Ricky blieb noch eine Weile unschlüssig auf dem Bahnsteig stehen, um sich jeden genau anzusehen, da er die Sorge nicht loswerden konnte, dass ihm trotz seiner Vorsichtsmaßnahmen jemand gefolgt war. Da gab es ein paar junge Leute um die zwanzig in Jeans oder Shorts, die miteinander lachten; eine Frau im
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