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Der Patient

Titel: Der Patient Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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und meine Manieren. Sie essen natürlich mit mir zu Abend, und ich habe das Gästezimmer für Sie herrichten lassen. Und jetzt sollte ich den Mund halten, was wir in unserem Metier doch so meisterlich beherrschen, und hören, was Sie zu mir führt.«
    Ricky überlegte einen Moment, wo er anfangen sollte. Er starrte auf den alten Mann, der in seinem Sessel versank, und hatte das Gefühl, als risse in seinem Innern eine Saite. Er fühlte, wie ihm die Selbstkontrolle schwand und die Lippen zitterten, während er mühsam herausbekam: »Ich glaube, ich habe nur noch eine Woche zu leben.«
    Dr. Lewis zog die Augenbrauen hoch.
    »Sie sind krank, Ricky?«
    Ricky schüttelte den Kopf.
    »Ich glaube, ich muss mir das Leben nehmen«, antwortete er. Der alte Analytiker beugte sich vor. »Das ist allerdings ein Problem«, sagte er.

14
     
    Ricky musste über eine Stunde lang wie ein Wasserfall geredet haben, ohne dass ihn Dr. Lewis mit einer einzigen Frage oder Bemerkung unterbrochen hätte. Stattdessen saß sein Lehrer, das Kinn in die Hand geschmiegt, reglos da. Ein-, zweimal stand Ricky auf und schritt das Zimmer ab, als könnte die Bewegung seiner Füße seinen Bericht beschleunigen, bevor er sich wieder in die Polster warf und fortfuhr, die Ereignisse der letzten Tage zu schildern. Bei mehr als einer Gelegenheit fühlte er, wie ihm – trotz der angenehmen Zimmertemperatur, der geöffneten Fenster und der frischen Abendluft aus dem Hudsontal – in den Achselhöhlen der Schweiß ausbrach.
    Er hörte fernes Gewittergrollen aus den Catskill Mountains ein paar Meilen hinter dem Fluss, tiefe Donnersalven wie Artilleriebeschuss. Er entsann sich, dass der hiesigen Sage nach das Geräusch von zauberischen Zwergen und Elfen herrührte, die in den grünen Tälern Kegel spielten. Er erzählte Dr. Lewis, wie er den ersten Brief erhalten hatte, er gab die Verse und die Drohungen wider und erzählte ihm, welchen Einsatz dieses Spiel von ihm verlangte. Er beschrieb Virgil und Merlin sowie die Anwaltskanzlei, die es gar nicht gab. Er versuchte, nichts auszulassen, von den elektronischen Übergriffen auf seine Konten bis zu der pornografischen Botschaft an seine entfernte Verwandte an ihrem gemeinsamen Geburtstag. Er verbreitete sich ausführlich über Zimmerman, seine Behandlung,seinen Tod und die zwei Besuche bei Detective Riggins. Er sprach über die falsche Anschuldigung wegen sexuellen Fehlverhaltens, die bei der Ärztekammer eingegangen war, und bekam dabei einen roten Kopf. Manchmal plapperte er geradezu, zum Beispiel über die beiden Einbrüche in seine Praxis, das Gefühl, keine Privatsphäre mehr zu haben, oder über seine erste Anzeige bei der
Times
und Rumpelstilzchens Antwort. Nicht immer hielt er sich an die chronologische Abfolge der Ereignisse und sprach als letztes über seine Reaktion auf die Fotos der drei Jugendlichen, die Virgil ihm vorgelegt hatte. Dann lehnte er sich schweigend zurück und starrte den alten Analytiker ihm gegenüber an, der inzwischen das Kinn in beide Hände stützte, als brauchte sein Kopf besonderen Halt, während er über das ganze Ausmaß des Unheils nachdachte, das über Ricky hereingebrochen war.
    »Höchst interessant«, sagte Dr. Lewis schließlich, lehnte sich zurück und stieß einen langen Seufzer aus. »Ich frage mich, ob Ihr Rumpelstilzchen ein Philosoph ist. Hat nicht Camus behauptet, die einzige echte Wahl, die dem Menschen im Leben bleibt, sei die Frage, ob er Selbstmord begeht oder nicht? Die große existenzielle Frage, auf die alles hinausläuft.«
    »Ich dachte, das war Sartre«, erwiderte Ricky. Er zuckte die Achseln. »Ich denke, das ist die zentrale Frage bei dem Ganzen, Ricky, die erste und wichtigste Frage, die Rumpelstilzchen Ihnen stellt.«
    »Entschuldigen Sie, was …«
    »Werden Sie sich das Leben nehmen, um es einem anderen zu retten, Ricky?«
    Die Frage machte Ricky betroffen. »Ich bin mir nicht sicher«, stammelte er. »Ich glaube, diese Alternative habe ich noch gar nicht in Betracht gezogen.«
    Dr. Lewis setzte sich in seinem Sessel zurecht. »Die Frage ist aber gar nicht so weit hergeholt«, sagte er. »Und ich bin sicher, dass Ihr Peiniger Stunden damit zugebracht hat, sich auszumalen, wie wohl Ihre Antwort lautet. Was für ein Mensch sind Sie, Ricky? Was für ein Arzt? Denn am Ende läuft dieses Spiel darauf hinaus: Werden Sie sich das Leben nehmen? Er scheint bewiesen zu haben, wie ernst er es mit seinen Drohungen meint, oder zumindest hat er Ihnen weisgemacht,

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