Der Patient
unvermittelt. Ricky erkannte kaum seine eigene Stimme wieder. Sie schien hoch und schrill.
»Hat er was?«
»Ist Rumpelstilzchen an Sie herangetreten? Sind Sie ein Teil seines Plans?«
Dr. Lewis setzte sich, breitete sorgsam die Serviette auf den Schoß, nahm sich dann eine reichliche Portion Fleisch und Salat, bevor er antwortete. »Mal andersherum gefragt, Ricky«, sagte er langsam. »Würde das einen Unterschied machen?«
»Allerdings würde es das«, stammelte Ricky. »Ich muss wissen, ob ich Ihnen trauen kann.«
Dr. Lewis nickte. »Tatsächlich? Ich denke, Vertrauen wird heutzutage überbewertet. Wie auch immer, was habe ich bis jetzt getan, um das Vertrauen, das Sie in mich setzen und das Sie hergeführt hat, zu untergraben?«
»Nichts.«
»Dann sollten Sie essen. Die Kasserolle hat meine Haushälterin gemacht, und ich versichere Ihnen, sie ist ziemlich gut,wenn auch leider nicht so gut, wie ich sie von früher kenne, als meine Frau noch am Leben war. Und Sie sehen bleich aus, Ricky, als hätten Sie in letzter Zeit nicht auf sich Acht gegeben.«
»Ich muss es wissen. Arbeiten Sie für Rumpelstilzchen?«
Dr. Lewis schüttelte den Kopf, aber nicht als Verneinung auf Rickys Frage, sondern eher als Kommentar zu der Situation. »Ricky, mir scheint, was Sie brauchen, sind Informationen. Erkenntnisse. Durchblick. Nichts von alledem, was Sie bis jetzt über das Vorgehen des Mannes berichtet haben, dient offenbar dazu, Sie irrezuführen. Wann hat er gelogen? Na ja, vielleicht bei diesem Anwalt, dessen Kanzlei nicht an der angeblichen Adresse war, doch das kann als einfaches, unumgängliches Täuschungsmanöver durchgehen. In Wahrheit zielt doch offenbar alles, was er bisher getan hat, darauf ab, Sie tatsächlich auf seine Spur zu führen. Zumindest kann man es so deuten. Er gibt Ihnen Tipps. Er schickt Ihnen eine attraktive junge Frau, die Ihnen helfen soll. Meinen Sie im Ernst, er will verhindern, dass Sie rausbekommen, wer er ist?«
»Helfen Sie ihm?«
»Ich versuche, Ihnen zu helfen, Ricky. Mag sein, dass ich ihm helfe, indem ich Ihnen helfe, das ist nicht auszuschließen. Und jetzt setzen Sie sich endlich und essen Sie was. Das ist ein wirklich guter Rat.«
Ricky zog einen Stuhl zurück, während sich ihm bei dem Gedanken an Essen der Magen zusammenzog.
»Ich muss wissen, dass Sie auf meiner Seite stehen.«
Der alte Psychoanalytiker zuckte die Achseln. »Steht die Antwort auf diese Frage nicht am Ende dieses Wettkampfs?« Er stieß die Gabel in die Kasserolle und schob sich einen großen Happen in den Mund.
»Ich bin als Freund gekommen. Als ehemaliger Patient. Siehaben entscheidenden Anteil an meiner Ausbildung, verflucht noch mal. Und jetzt …«
Dr. Lewis wedelte mit der Gabel in der Luft wie ein Dirigent mit dem Stab vor einem aus dem Takt gekommenen Orchester. »Die Leute, die Sie behandeln, betrachten Sie die als Freunde?«
Ricky schwieg und schüttelte den Kopf. »Nein, natürlich nicht. Aber das ist doch bei dem Analytiker, der einen ausbildet, etwas vollkommen anderes.«
»Wirklich? Haben Sie nicht zu dem einen oder anderen Ihrer derzeitigen Patienten ein vergleichbares Verhältnis?«
Beide Männer schwiegen, während die Frage im Raum stand. Ricky wusste, dass die Antwort ja lautete, brachte das Wort aber nicht über die Lippen. Nach einer Weile tat Dr. Lewis die Sache mit einer Handbewegung ab.
»Ich muss es wissen«, beharrte Ricky in scharfem Ton.
Dr. Lewis setzte eine aufreizend ausdruckslose Miene auf. Passend für eine Pokerrunde. Innerlich kochte Ricky, da er den leeren Gesichtsausdruck durchaus richtig zu deuten wusste. Genauso undurchdringlich sah er seine Patienten an, um weder Zustimmung noch Schock, Staunen, Angst oder Ärger preiszugeben. Dieser Blick gehört zum Standardrepertoire, zur Grundausrüstung des Psychoanalytikers. Er kannte ihn noch zu gut von seiner eigenen Analyse vor rund fünfundzwanzig Jahren und wehrte sich jetzt mit Händen und Füßen dagegen.
Der alte Mann schüttelte langsam den Kopf. »Nein, Ricky, müssen Sie nicht. Das Einzige, was Sie wissen müssen, ist, dass ich Ihnen helfen will. Meine Motive spielen dabei keinerlei Rolle. Vielleicht hat Rumpelstilzchen etwas gegen mich in der Hand, vielleicht auch nicht. Ob er dafür gesorgt hat, dass irgendein Damoklesschwert über mir oder meiner Familiehängt, ist für Ihre Situation von keinem Belang. Bin ich in Sicherheit? Bedeutet eine Beziehung Gefahr für mich oder nicht? – Diese Fragen werden Sie
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