Der Patient
schlimmer noch, nicht ins Kittchen wanderten. Deshalb hat sie von dort zu einer sehr ungewöhnlichen kleinen Anwaltskanzlei gewechselt. Meist Zivilrechtsprozesse und Arbeit für Bürgerrechtsorganisationen. Sie hat Vermieter in den Slums vor Gericht gebracht und Berufungsverfahren für Justizopfer angestrengt. Sie war eine liberale Idealistin, die Gutes tat. Sie machte sich selber lustig darüber, dass sie zu der verschwindendenMinderheit von Yale-Absolventen gehörte, die nie richtig Geld verdienten.« Ricky schmunzelte, als er im Geist ihre eigenen Worte hörte. Viele Jahre lang hatten sie miteinander darüber gewitzelt.
»Verstehe. Im Verlauf Ihrer Analyse, zur selben Zeit, als Sie Ihre Frau kennen lernten und sich in sie verliebten, vertei digte sie Kriminelle. Später dann hatte sie mit vielen wütenden Randständigen zu tun, die sie zweifellos noch mehr in Rage versetzte, indem sie sie vor Gericht brachte. Und jetzt scheinen Sie selber mit jemandem zu tun zu haben, den man wohl durchaus als Kriminellen bezeichnen kann, wenngleich er weitaus raffinierter und gerissener sein dürfte als diejenigen, mit denen Ihre Frau zu tun bekam. Und trotzdem glauben Sie, dass eine Verbindung völlig ausgeschlossen ist?«
Ricky machte den Mund auf, um etwas zu erwidern, doch ihm fehlten die Worte. Dieser Gedanke lief ihm kalt den Rücken herunter.
»Rumpelstilzchen hat nichts davon erwähnt …«
»Ich meine ja bloß«, sagte Dr. Lewis und schwang die Hand in der Luft. »Wäre immerhin denkbar.«
Ricky schwieg, während sein Gedächtnis auf Hochtouren arbeitete. Es wurde still zwischen den beiden Männern. Ricky versuchte, sich vorzustellen, wie er als junger Mann gewesen war. Es war, als hätte sich in einem granitharten Stein in seinem Innern plötzlich ein Riss aufgetan. Er hatte sich selbst vor Augen: viel jünger und voller Energie. In einem Moment, da sich die Welt für ihn öffnete. Es war ein Leben, das mit seiner gegenwärtigen Existenz nur wenig gemein hatte. Diese Kluft, die er hartnäckig geleugnet hatte, machte ihm plötzlich Angst.
Dr. Lewis musste ihm etwas angesehen haben, denn er sagte: »Reden wir davon, was für ein Mensch Sie vor etwa zwanzigJahren waren, allerdings nicht der Ricky Starks, der sich aufs Leben freute, auf seinen Beruf, seine Ehe. Befassen wir uns mit dem Ricky Starks, der voller Zweifel war.«
Er hatte schon eine Antwort auf der Zunge, wollte den Gedanken mit einer Handbewegung abtun, als er stockte. Er stürzte sich tief in seine Erinnerungen und entsann sich wieder der Unentschlossenheit und der Ängste, des ersten Tags, an dem er in Dr. Lewis’ Praxis in der Upper East Side spaziert war. Er betrachtete den alten Mann ihm gegenüber, der scheinbar jedes Zucken in Rickys Körper registrierte, und als er dachte, wie alt der Mann geworden war, kam ihm die Frage in den Sinn, ob dasselbe auch auf ihn selbst zutraf. Der Versuch, sich an die psychischen Beschwerden zu erinnern, die er vor so vielen Jahren mit zum Psychoanalytiker gebracht hatte, war ein wenig so wie der Phantomschmerz, den ein Amputierter fühlt, wenn das Bein nicht mehr da ist, der Schmerz aber bleibt, wirklich und unwirklich zugleich. Also überlegte Ricky: Wer war ich zu der Zeit?
Schließlich kam seine Antwort mit Bedacht: »Ich glaube, die Zweifel, die Ängste und die Sorgen, die ich damals hatte, ließen sich jeweils in zwei Gruppen einteilen, die mich beide zu lähmen drohten. Die erste Gruppe rührte von einer übertrieben verführerischen Mutter, einem anstrengenden, gefühlskalten und früh verstorbenen Vater her und einer Kindheit, in der Leistung mehr zählte als Zuneigung. Ich war eine Art Nachzügler in der Familie, doch sie machten mich nicht zum verhätschelten Nesthäkchen, sondern legten nur eine unerreichbar hohe Messlatte an mich an. Das fasst es so ziemlich zusammen. Das war die Konstellation, die Sie im Verlauf der Behandlung mit mir durchgegangen sind. Doch diese Neurosen überlagerten auch die Beziehung zu meinen Patienten. Im Verlauf meiner eigenen Behandlung arbeitete ich selber andreierlei Orten: in der Ambulanz am Columbia Presbyterian Hospital; dann die kurze Phase bei den psychisch schwer Kranken am Bellevue …«
»Ja«, sagte Dr. Lewis und nickte. »Eine klinische Studie. Ich entsinne mich, dass es Ihnen nicht besonders behagte, die richtig Geisteskranken zu behandeln …«
»Ja, das ist richtig. Ich musste ihnen psychotrope Medikamente verabreichen und die Leute davon abhalten, sich oder
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