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Der Patient

Titel: Der Patient Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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sich in dieser Welt immer wieder stellen. Werden wir nicht oft von denen am meisten verletzt, die wir lieben und achten, und nicht von denen, die wir hassen und fürchten?«
    Ricky antwortete nicht, das übernahm Dr. Lewis für ihn.
    »Die Antwort, die Sie derzeit nicht auszusprechen wagen, lautet: Ja. Und jetzt essen Sie was. Ich denke, wir haben eine lange Nacht vor uns.«
     
    Die beiden Ärzte wandten sich ihrer Mahlzeit zu, und während sie aßen, herrschte weitestgehend Schweigen zwischen ihnen. Die Kasserolle war ausgezeichnet; zum Nachtisch folgte ein selbstgemachter Apfelkuchen mit einem Hauch Zimt. Dazu gab es schwarzen Kaffee, der frisch und so stark aufgebrüht war, dass er sie für einige Stunden wach halten würde. Ricky kam der Gedanke, dass ihm noch keine Mahlzeit zugleich so normal wie seltsam erschienen war. Er war ebenso ausgehungert wie erbost. Zerging ihm das Essen eben noch auf der Zunge, fühlte es sich im nächsten Moment staubtrocken und kalt am Gaumen an. Zum ersten Mal seit Jahren erinnerte er sich an Mahlzeiten, die er alleine zu sich genommen hatte, wenn er sich in den letzten Tagen ihres Sterbens für Minuten von der Seite seiner Frau gestohlen hatte, nachdem sie unter Schmerzmitteln endlich in eine Art Halbschlaf gefallen war. Dieses Essen hier schmeckte ähnlich.
    Dr. Lewis räumte das schmutzige Geschirr in den Spülstein. Er goss sich Kaffee nach und bedeutete Ricky, sich erneut ins Arbeitszimmer zu begeben. Sie nahmen wieder in ihren Sesseln Platz, so dass sie sich gegenübersaßen. Ricky kämpfte seinen Ärger über die indirekte, ausweichende Art des älterenKollegen herunter. Er mahnte sich, aus seinem Frust Gewinn zu schlagen. Das war leichter gesagt als getan. Wie ein Kind, das für etwas ausgeschimpft wird, für das es nichts kann, rutschte er auf seinem Sitz hin und her.
    Dr. Lewis starrte ihn an, und Ricky wusste, dass dem Älteren wie einem Medium in einer Eso-Show nicht die flüchtigste Regung entging. »Also, Ricky, wo fangen wir an?«
    »In der Vergangenheit, vor dreiundzwanzig Jahren. Als ich zu Ihnen kam.«
    »Ich entsinne mich, dass Sie mit einer Menge Theorien im Kopf und voller Enthusiasmus zu mir kamen.«
    »Ich war fest davon überzeugt, ich könnte die Menschheit vom Wahn und von der Verzweiflung erlösen. Ich gegen den Rest der Welt.«
    »Hat nicht ganz geklappt?«
    »Nein. Sie wissen ja. Tut es schließlich nie.«
    »Aber manche haben Sie schon gerettet?«
    »Will ich hoffen. Glaube schon.«
    Dr. Lewis verzog das Gesicht zu einem Grinsen, einem katzenhaften Grinsen. »Schon wieder eine typische Analytikerantwort. Nur ja nicht festlegen, immer ein Hintertürchen offen. Mit zunehmendem Alter, jedenfalls in meinen fortgeschrittenen Jahren, kommt man auch zu anderen Interpretationen. Nicht nur unsere Adern werden starr, sondern auch unsere Auffassungen. Darf ich genauer nachfragen: Wen haben Sie gerettet?«
    Ricky schwieg, als brütete er über seiner Antwort. Er wollte seine erste Reaktion unterdrücken, doch vergeblich. Die Worte rutschten ihm heraus, als hätte er Öl auf der Zunge. »Ich konnte den Menschen nicht retten, der mir am meisten bedeutet hat.«
    Dr. Lewis nickte. »Bitte, fahren Sie fort.«
    »Nein, sie hat nichts damit zu tun.«
    Der Ältere zog leicht die Augenbrauen hoch. »Wirklich? Ich nehme mal an, wir reden von Ihrer Frau?«
    »Ja. Wir haben uns kennen gelernt. Uns verliebt. Geheiratet. Jahrelang waren wir unzertrennlich. Sie wurde krank. Wegen ihrer Krankheit hatten wir keine Kinder. Sie starb. Ich machte ganz alleine weiter. Ende der Geschichte. Sie hat damit nichts zu tun.«
    »Natürlich nicht«, sagte Dr. Lewis. »Aber wann genau haben Sie beide sich kennen gelernt?«
    »Kurz bevor wir mit der Analyse begonnen haben. Wir sind uns auf einer Cocktailparty begegnet. Wir waren beide gerade mit der Ausbildung fertig; sie als Anwältin, ich als Arzt. Unsere erste Liebe fiel in die Zeit, als ich bei Ihnen in Analyse war. Sie müssten sich erinnern.«
    »Und was war sie von Beruf?«
    »Sie war Anwältin, wie gesagt. Auch das müssten Sie noch wissen.«
    »Ja, tu ich auch. Aber was für eine Anwältin? Worauf war sie spezialisiert?«
    »Na ja, als wir uns kennen lernten, hatte sie gerade beim Amt für Pflichtverteidigung Manhattan, in der Abteilung Kleinkriminalität, angefangen. Von da aus hat sie sich langsam zu schweren Delikten hochgearbeitet, bis sie es irgendwann leid war zuzusehen, wie alle ihre Klienten ins Kittchen wanderten oder,

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