Der Pestengel von Freiburg
gab es zwei, drei neue Erkrankungen dazu. Umso mehr wunderte es sie, dass die Stadt nicht in Erstarrung verfallen war. Noch auf ihrer Waldhütte hatte Clara manchmal von einer kleinen Lichtung aus hinunter auf das Dörfchen Ebnot geschaut und den Glocken gelauscht, die den bösen Geist der Seuche bannen sollten. Hatte beobachtet, wie die Menschen Notfeuer entfachten, Gräben um ihr Dorf zogen und in Bittprozessionen durch die Gassen schritten. Bald schon hatte man begonnen, die Häuser der Verstorbenen kurzerhand anzuzünden.
Mit diesen Eindrücken war sie nach Freiburg zurückgekehrt und hatte die Stadt in Totenstarre erwartet, mit Bewohnern, die unaufhörlich jammerten und weinten. Das gab es zwar auch. Doch wo in der einen Gasse Wehgeheul und Schmerzensschreie zwischen den Häuserwänden hallten, da war schon in der nächsten lautes Gelächter zu hören, saßen Männer beim Würfelspiel, feilschten Krämer um ihre Preise, tändelten junge Burschen mit ihren Liebschaften.
Es schien, als lebten und arbeiteten diejenigen, die nicht betroffen waren, wie eh und je. Selbst von der Kirchenbaustelle hallten wieder die Hammerschläge, brannte das Schmiedefeuer,und ihr Ältester hatte wieder gut zwei Handvoll Männer unter sich, die Steine für die neue Kapelle vorfertigten. Es brauchte einige Tage, bis Clara erkannte, dass sich das Leben schleichend, aber grundlegend verändert hatte. Das Verbot von Sterbeglocken und Klageweibern, die neue Verordnung, dass nur noch engste Angehörige der Totenbahre folgen durften, ja überhaupt der Umgang mit dem Sterben waren nicht das Einzige an Althergebrachtem, das auf einmal nichts mehr galt.
Immer häufiger hörte sie bei ihren Krankenbesuchen die Klagen, dass die Menschen ihren Lohn nicht mehr erhielten oder ein Käufer seine Waren nicht bezahlte. Ein Wort, ein Handschlag galt nichts mehr. Dazu soffen vor allem die Männer sich oft schon am helllichten Tag einen Rausch an, pfuschten bei ihrem Handwerk oder ließen ihre Arbeit ganz und gar ruhen. Und vor den Altären predigten die Pfarrer und Kapläne nur noch ein und dasselbe. Die Seuche sei ein Gottesfluch, und dass die Heilkunst versage, sei nur ein Beweis hierfür. Der ekelerregende Anblick der Pestkranken sei dem Gesunden eine letzte Mahnung an die eigene Hinfälligkeit und Sündigkeit, eine letzte Aufforderung zu Umkehr und Buße. Denn nur der Gerechte erfahre Gnade, den Bösen würden die bösen Engel mitnehmen.
Leider fielen diese mit Donnerstimme vorgetragenen Warnungen auf wenig fruchtbaren Boden, auch wenn die Kirchen mit jedem Tag voller wurden. Sie selbst gab sich alle Mühe, dem hässlichen Wandel im Verhalten der Menschen keine Beachtung zu schenken, ebenso wenig wie den Momenten der Trauer und der Niedergeschlagenheit, die sie immer wieder heimsuchten. Sie ging ihrer Arbeit nach, versuchte zu helfen und zu lindern, wo es nur ging. Und sie spürte, wie sehr sie das tröstete.
Mehrfach am Tag durchquerte sie die ganze Stadt, marschierte mit ihren Utensilien in der schweren Tasche von der Schneckenvorstadt im Süden bis zur Neuburg im Norden, von der Hinteren Wolfshöhle im Osten bis in die Predigervorstadt im Westen. Standen einmal keine Krankenbesuche an, kochte und buk sie für Daniel und die Kinder oder bereitete ihre Salben, Tinkturen und Tränke aus frischen Ingredienzien, die sie täglich in Meister Christoffels Apotheke besorgte oder vor der Stadtmauer sammelte. Über die Kräuter sprach sie nicht nur Gebete, sondern für alle Fälle auch Beschwörungen wie: «Beim Blut Christi, Amen. Ich beschwöre dich, Kraut, beim Herrn Petrus, beim Mond und bei den Sternen, lass mich siegen, besiegen sollst du alle Feinde des Menschen und alle, die gegen mich arbeiten.»
Auf teuren Theriak verzichtete sie, da ihn sich die meisten ihrer Kranken ohnehin nicht leisten konnten. Stattdessen flößte sie ihnen Kräuteraufguss, Rotwein und Wasser ein und hielt penibel Sauberkeit. Wichtige Anregungen zur Krankenbehandlung bekam sie von Benedikt, der wann immer möglich zum Abendessen in sein Elternhaus kam. Da berichtete er von seinen Besuchen im Wald, und sie sprachen dann über die einzelnen Krankheitsfälle. Hierzu las er ihr aus seinen Aufzeichnungen vor oder berichtete, was er von seinem Vater gehört hatte. An einem dieser Abende erkannte Clara auch, warum Grede Mittnacht hatte sterben müssen.
Clara hatte zwar bereits zuvor um die gefährliche Bedeutung jener Beulen an Gelenken und Leisten gewusst, wo sich die
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