Der Pestengel von Freiburg
Nachdem Pfarrer Cunrat ein letztes Mal den Weihwasserwedel geschwenkt hatte, strebte er auch schon mit dem Messdiener zur Tür hinaus. Benedikt folgte ihnen, um ihnen, wie es Brauch war, in der Küche etwas zu essen und zu trinken anzubieten und den Pfarrer auszubezahlen. Wie hatte Heinrich immer gesagt? Sobald ein Priester seine Stola anlegt, erwartet er eine Gebühr. Auch über die Stiftung einer Seelenmesse, über Kerzen- und Armenspendung zum Seelenheil des Verstorbenen würde Benedikt mit ihm reden müssen. Heinrich hätte sich gewiss eine Jahrzeitmesse gewünscht, mit Zuwendung von Brot, Wein und Fleisch an die Siechen auf dem Felde.
Clara war froh, dass ihr Sohn das Gespräch mit dem Pfarrer übernommen hatte und sie noch ein letztes Mal mit Heinrich allein sein durfte.
Niemand war bislang in ihr Haus gekommen; nicht zur Sterbestunde, nicht zur Nachtwache und auch heute Morgen nicht. Kein Glockengeläut hatte vom Eintritt des Todes gekündigt, kein Wehgeschrei der Klageweiber. Zu anderen Zeiten hätte die große Hosiannaglocke die Menschen schon vorher zur Kirche gerufen, damit sie den Pfarrer bei seinem Versehgang zum Sterbenden begleiten und mit ihren Fürbitten zu einem seligenTod beitragen konnten. Angehörige und Freunde, Nachbarn und Zunftgenossen hätten sich am Sterbelager versammelt, um einander zu trösten und zusammen zu beten, um Bußlieder zu singen und ihre gemeinsame Trauer durch Tränen und Klagerufe kundzutun. Doch nicht einmal ihre nächsten Nachbarn zur Großen Gass hin, die Familien des Stadtschreibers Heinerli und des Goldschmiedemeisters Stülinger, waren erschienen. Dabei hatten sie immer in Einvernehmen und Freundschaft mit ihnen gelebt.
Clara konnte ihnen nicht einmal grollen. Wahrscheinlich hatten sie Angst. Oder gar selbst ein Seuchenopfer zu beklagen. So würden sie Heinrich Grathwohl ganz allein zum Friedhof begleiten müssen.
«Mutter?» Benedikt stand plötzlich vor ihr. Hinter seinem Rücken erkannte sie den Altardiener. «Es ist so weit.»
«Er fehlt mir so sehr», sagte sie nur.
«Mir auch.» Benedikt nahm ihre Hand und half ihr auf. Der Messdiener reichte ihnen den Leinensack. Während sie den Leichnam darin einhüllten, sagte Clara leise: «Ich habe es gewusst. Ich habe es gestern schon gewusst, noch bevor dein Bote mich geholt hat.»
Benedikt sah sie fragend an.
«Gestern, am späten Nachmittag», fuhr sie fort, «ist dein Vater mir erschienen, um sich von mir zu verabschieden. Er hatte schlohweißes Haar und hat gelächelt. Ich hab’s nicht wahrhaben wollen, aber als dann heut früh der Bote kam …»
Sie unterdrückte ein Schluchzen, das lauter wurde, während sie den Sack am Fußende zunähte. Zu dritt trugen sie den verborgenen Leichnam über die Stiege in den Hof, wo neben der Bahre der Pfarrer auf sie wartete. Das Vortragekreuz hielt er abmarschbereit vor die Brust.
In diesem Moment klopfte es heftig von außen gegen das Hoftor.
«Meister Heinrich, seid Ihr da? Macht schnell auf, es eilt!»
Verwirrt öffnete Clara das Tor. Vor ihr stand Ulmann Mittnacht, der Käskrämer aus der Predigervorstadt. Der stierte nun auf den Leichensack, schlug das Kreuzzeichen und murmelte mit aufgerissenen Augen: «Gütiger Herr im Himmel …»
Sein Blick ging zwischen Clara und Benedikt hin und her.
«Ist er – tot?»
«Ja», antwortete Benedikt knapp.
«Gott sei seiner Seele gnädig.» Wieder bekreuzigte er sich. «Aber – was soll ich jetzt tun? Meine Grede hat die Beulen!»
«Es tut mir leid, Mittnacht. Wir müssen heut meinen Vater unter die Erde bringen. Aber vielleicht schaue ich später am Tag noch bei euch vorbei.»
Am Tag, als Heinrich Grathwohl gestorben war, hatte der Rat der Stadt beschlossen, die Totenglocken nicht mehr läuten zu lassen. Zu viele Todesfälle hatte es inzwischen gegeben.
Clara erkannte, dass das Sterben nicht mehr öffentlich sein durfte. Hatte es schon bei Heinrich keinen Versehgang mehr gegeben, so erst recht keinen Leichenzug. In letzter Minute war ein einziger Zunftgenosse erschienen, in Vertretung des Zunftmeisters, der zusammen mit Benedikt die Bahre getragen hatte, während Pfarrer und Messdiener mit Kerze und schwingendem Weihrauchfässchen vorangeschritten waren. Bei ihrem Gang durch die Gassen hatte Clara deutlich all die mitleidigen Blicke gespürt, mit denen die Menschen aus ihren Fenstern oder halbgeöffneten Türen den armseligen Zug verfolgt hatten.
Nicht einmal eine Totenmesse in der Kirche hatte es
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