Der Pestengel von Freiburg
schmutzig, mit Hut und Stock, im verschlissenen Leinenkittel.
Es zog Benedikt jedes Mal das Herz zusammen, wenn er bei der Lichtung ankam, seine Rückentrage abstellte und den alten Freund und die Kinder begrüßte. Man hätte ein Pferd zwischen sie und ihn stellen können, so weit voneinander entfernt tauschten sie ihre wichtigen und weniger wichtigen Neuigkeiten aus. Einmal hatte Michel nicht an sich halten können und war auf ihn zugerannt. Mit einem Satz war Johanna hinter ihm her und hatte den heulenden Jungen am Kittel zurückgerissen.
Benedikt wäre es leichter gefallen, wenn seine Mutter ihn begleitet hätte, aber sie hatte entschieden abgewinkt. Sie habe keine Zeit hierfür, zu viel Kranke und Sterbende gebe es bereits,die ihre Hilfe bräuchten. Außerdem, und das war entscheidender, wolle sie ihre Lieben nicht einer zusätzlichen Ansteckungsgefahr aussetzen. Als er ihr dann eines Abends erzählte, dass Daniel neuerdings Michel das Schießen lehrte, der Junge mit erstaunlicher Begabung dabei sei und sich nichts sehnlicher wünsche, als sein Können baldmöglichst der Mutter vorzuführen – da war sie unvermittelt in Tränen ausgebrochen. In dem Moment erst erkannte Benedikt den wahren Grund, warum seine Mutter nicht mit ihm kam. Sie hätte die jammervolle Situation auf der Lichtung niemals ertragen.
Trotzdem war er froh über jede Stunde, die er draußen in der Natur verbringen durfte. In der Stadt nämlich verlor sich das tägliche Leben so langsam in heilloser Unordnung. In einigen Gassen, vor allem in der engen Neuburgvorstadt, standen bereits ganze Häuser leer, bald wusste man nicht mehr, wer geflohen und wer gestorben war. Dabei waren es in der Regel nur die Reichen, die sich eine Reise mit Sack und Pack zur fernen Verwandtschaft leisten konnten oder sich, mit teurem Theriak eingedeckt, auf ihre Sommersitze auf dem Lande begaben. Dem einfachen Volk stellte sich die Frage, wohin es fliehen sollte, erst gar nicht. Die umliegenden Dörfer und Städte, die noch verschont waren, ließen nämlich keine Fremden mehr ein. Ihre Tore waren geschlossen, die Mauern und Palisaden schwer bewacht.
Zum ersten Mal, seit Benedikt sich erinnern konnte, gab es mehr Arbeit als Arbeitsuchende in seiner Stadt, was zur Folge hatte, dass ihm auf dem Werkplatz nach und nach die Kontrolle entglitt. Er wusste nie, wer von seinen Steinhauern morgens erschien und in welchem Zustand, ob nüchtern oder – wie so oft – betrunken. Der Koch bereitete das Morgen- und Nachtessen, wie es ihm beliebte – oder gar nicht, wenner wieder einmal sturzhagelbesoffen vor dem Herd auf dem blanken Fußboden lag. Sie waren hier auf der Kirchenbauhütte zwar nur noch ein knappes Dutzend Männer, aber auch die hatten Anspruch auf täglich zwei Mahlzeiten. Als schließlich selbst Peterhans, der einzig verbliebene Schmied und bislang sein zuverlässigster Mann, kam und ging, wie es ihm beliebte, beschloss Benedikt, die Löhne einzubehalten.
Noch am selben Tag, dem Samstag vor Mariä Himmelfahrt, suchte er deswegen den Kirchenschaffner auf, der von Seiten der Stadt nicht nur für die Bauaufsicht zuständig war, sondern als Rechnungsführer und Buchhalter auch für die Löhne. Wobei die Bezahlung der Männer aus der Hand von Benedikt erfolgte.
In der Schaffnerwohnung am Kirchplatz traf er Paulus Überslag nicht an, doch seine Magd verwies ihn an Ritters Badstube draußen am Mühlbach. Da er ohnehin nichts anderes zu tun hatte an diesem leidlich warmen Samstagnachmittag, machte er sich auf den Weg hinaus vor die Stadt, wo sich kurz hinter der Grafenmühle das Badhaus befand. Nach seinem Begründer, Ritter Gerhart von Bahlingen, hieß es allgemein Ritters Badstube, obgleich der Bahlinger längst verstorben war. Und tatsächlich traf sich hier, fernab vom Stadtvolk, wer Rang und Namen hatte.
Als Benedikt zusammen mit zwei Burschen, die nur ein loses, kurzes Hemd über den nackten Beinen trugen, durch das offene Hoftor trat, schlug ihm fröhlicher Lärm entgegen. Ein Teil der Badegäste labte sich unter dem Blätterdach der beiden Kastanien, halbnackt oder gleich so, wie Gott sie geschaffen hatte, an Wein und Bier. Paulus Überslag war nicht darunter.
«Ist der Kirchenschaffner hier?», fragte Benedikt in die Runde, zu der sich eben noch drei Weiber in kurzem, triefendnassem Badschurz gesellten. In einem erkannte er Adelheid, die älteste Tochter von Ratsherr Neumeister. Unwillkürlich blieb sein Blick an ihren üppigen Rundungen hängen, die sich
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