Der Pestengel von Freiburg
verklumpten, vergifteten Körpersäfte sammelten und unerträgliche Schmerzen verursachten, um schließlich das tödliche Fäulnisfieber zu verursachen. Hatte auch gewusst, dass eine Möglichkeit auf Heilung nur bestand, wenn sich die Beulenöffneten und der giftige Inhalt nach außen abging. Bei Grede hatte sie erstmals solche Beulen aufgeschnitten und war entsetzt gewesen über die stinkende, eitrige Masse, die sich daraus ergoss. Doch dann war Grede gestorben, ganz offensichtlich an Wundbrand.
Nachdem Benedikt ihr erzählt hatte, wie Heinrich vorgegangen war, verfuhr sie fortan anders: Nach dem Aufschneiden reinigte sie die Wunden nicht nur mit Essig oder Rotwein, sondern legte eine Kompresse aus warmem Zwiebelmus auf, die sie täglich erneuerte. Dabei vergaß sie nicht, über jede Wunde einen Heilspruch im Namen der Dreifaltigkeit zu sprechen und dies, wo es ihr nötig schien, durch Bekreuzigungen und Gebete zu verstärken. Einige wenige hatte sie schon vor dem Tod bewahren können, doch die Mehrzahl, zumal wenn es sich um die Lungenpestilenz handelte, starb ihr unter den Händen weg. Indessen ließ sie sich nicht entmutigen.
«Es gibt Augenblicke, da ist mir, als würde dein Vater noch leben», sagte sie einmal zu Benedikt, und die Tränen traten ihr in die Augen. «Als würde er neben mir stehen und Anweisungen geben. Wie gut, dass du alles aufgezeichnet hast!»
Benedikt nickte. «Ja, ich konnte in dieser Zeit viel von ihm lernen. In dieser viel zu kurzen Zeit.»
Auch er kämpfte gegen die Tränen an. Clara nahm ihn in den Arm.
«Bitte, Mutter – lass mich mitkommen. Ich könnte dir in so vielem helfen.»
«Fang nicht wieder damit an.» Schon bei Grede Mittnacht hatte er sie begleiten wollen. Aber sie blieb unnachgiebig. Höchstens wenn es galt, einen Toten zu versorgen, nahm sie ihn mit. Denn waren die Leichname erst einmal mit Essigwasser gereinigt und lagen nackt oder in frischem Büßerhemd inihrer Stube, konnten sich die Miasmen nicht mehr verbreiten, dessen war sie sich sicher.
«Dein Platz ist auf der Kirchenbauhütte und bei deinen Geschwistern. Du hilfst mir auch, wenn wir hier abends zusammensitzen und miteinander sprechen. Außerdem: Der Herrgott und sämtliche Schutzengel haben dich bislang vor Ansteckung bewahrt. Du darfst dein Schicksal nicht noch mehr herausfordern.»
«Aber du forderst es doch auch heraus!» Benedikt biss sich trotzig auf die Lippe.
Sie schwieg für einen Moment. Dann sagte sie: «Ich bin alt, und du bist jung. Denk an deine Geschwister und an Eli und Jossele. Sollte es mich treffen, brauchen sie dich als Familienoberhaupt. – Außerdem habe ich ja jetzt Mechthild, die mir zur Hand geht.»
Keine Woche nach Heinrichs Tod nämlich hatte ihre alte Freundin sie aufgesucht und ihr allen Ernstes ihre Hilfe angeboten. Clara war gerührt gewesen, hatte aber abgelehnt.
«Das ist viel zu gefährlich.»
Mechthild war hartnäckig geblieben. «Was soll ich mich fürchten vor dem Tod? Mein Leben war nicht besonders schön, und seitdem Gottfried nicht mehr ist, tanzen mir meine Söhne noch mehr auf der Nase herum. Und wer weiß, vielleicht kann ich mir hiermit ein Plätzchen an der Seite des Herrgotts verdienen.»
Am Ende hatte Clara eingewilligt und war schon bald heilfroh um Mechthilds Unterstützung. Die Krankenpflege bedeutete oftmals schwere körperliche Arbeit, und zu zweit kamen sie wesentlich besser damit zu Streich. Da Clara sich für ihre Freundin verantwortlich fühlte, nahm sie die Gefahr der Ansteckung nun noch ernster. Mehr und mehr kam sie zu demSchluss, dass die zwei Formen der Pestilenz auch zwei Ursachen haben mussten – die erste, die Beulenpest, hing irgendwie mit Schmutz zusammen, die zweite, unausweichlich tödliche, holte man sich über den Atem, wobei erstere Form in die zweite übergehen konnte. Auch wenn man sich gegen die Miasmen in Atem und Ausdünstungen nicht sicher schützen konnte, so konnte man doch gegen den Schmutz vorgehen. Mit Mechthilds Hilfe ging sie fortan dazu über, sämtliche Krankenzimmer mit Essigwasser und aromatischen Substanzen zu reinigen. Ebenso verfuhr sie mit Bettwerk und Kleidern. Alles, was nach Müll und Lumpen aussah, ließ sie nach draußen schaffen und verbrennen – nicht selten gegen den Protest der Angehörigen. Dazu hüllten sie und Mechthild sich vor jedem Krankenbesuch in einen bodenlangen Umhang, den sie mit Wacholder und Bibernelle eingeräuchert hatten, und legten, wie schon Heinrich und Benedikt es getan
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