Der Pestengel von Freiburg
Gebete des Pfarrers ausgereicht, um Heinrichs Seele in das Reich der Ruhe und des Lichts zu bringen? Oder war es vielmehr so, wie es die Geistlichen allerorten predigten? Dass nur die Heiligen sogleich ins ewige Paradies gelangten, der sündige Mensch indessen in jenem Zwischenreich, Fegefeuer genannt, verharren musste, um dort eine Zeit der Läuterung zu durchleben? Eine Zeit derHöllenqualen in Feuerschächten und siedenden Pechströmen, wo nach Gut und Böse getrennt wurde?
Clara unterdrückte einen Aufschrei bei dieser Vorstellung und brachte erneut ihre Fürbitten an die Heiligen vor. Aber es nutzte nichts. Grauenvolle Bilder suchten sie heim, in ihrem Kopf mischte sich alles, was sie je gehört hatte über den Vorhof der Hölle. Dorthin fiel, wer auf dem schmalen Steg zum Himmel ausglitt. Und sank umso tiefer in die kochende, klebrige Masse, je größer die ungesühnte Schuld. Wen es ganz und gar in den Höllenschlund riss, den quälten auf ewig Hitze, Kälte, ekliger Gestank. Zwischen grässlich entstellten Leibern tummelte sich dort das Böse in Gestalt wilder Löwen und Schlangen, mehrköpfiger Drachen und Sirenen, Schakale und Hyänen. Gehörnte Teufel peitschten die Rücken der Verdammten, tauchten sie mit Bratspießen in das siedende Pech, der dreiköpfige Höllenfürst Luzifer zermalmte mit jedem Maul einen Sünder …
Nein! Clara schüttelte heftig den Kopf. Sie wollte nicht lassen von ihrer Überzeugung, dass Gott am Ende jedem verzieh und ihn in seine Gemeinschaft aufnahm, erst recht einen Menschen wie Heinrich. Da mochte Pfarrer Cunrat reden, was er wollte. Ohnehin war sie maßlos enttäuscht von ihm. Erst am nächsten Vormittag nämlich war er erschienen, kurz nach Claras Ankunft, mit violetter Stola über dem Priestergewand und in Begleitung eines jungen Messdieners.
Wie lächerlich hatte sein vermeintlicher Trost gewirkt.
«Der Herr gibt, und der Herr nimmt», so hatte er sie begrüßt und den Leichnam mit Weihwasser besprengt. Nachdem er Psalmen und andere Gebete über dem Toten gesprochen hatte, hatte er Clara und Benedikt ermahnt, sich nicht allzu sehr der Trauer zu überlassen. Dies verrate nur den mangelndenGlauben, schließlich sei der Tod keine Strafe, sondern eine Gnade Gottes.
«Wer im Totenbett nur inbrünstig genug bereut hat, vermag es auch, durchs Fegefeuer zum Heil zu gelangen», waren seine abschließenden Worte gewesen.
Da hatte Benedikt nicht länger an sich halten können.
«Ihr als Gottesmann habt meinen Vater ohne Absolution und ohne den Segen der Kirche sterben lassen!» Sein Gesicht war rot vor Zorn. «Ihr redet von inbrünstiger Reue – wie soll das gehen ohne Beistand des Priesters, ohne Beichte und Absolution? Ihr sprecht von Fegefeuer – aber geradewegs dorthin habt Ihr die Seele meines Vaters geschickt. Und das nur, weil Ihr Angst hattet, einen Pestkranken aufzusuchen.»
Für einen Moment sah es aus, als würde Benedikt vor Empörung ausspucken. Beschwichtigend legte Clara ihm die Hand auf den Arm.
Pfarrer Cunrat kräuselte die Lippen.
«Vorsicht, mein Sohn! Schmerz und Trauer haben dir die Sinne vernebelt, dass du so mit mir sprichst. Ich hab für deinen Vater getan, was ich vermochte, habe die ganze Nacht hindurch gebetet. Was glaubst du eigentlich, wie viele meiner Schäfchen in dieser Zeit meinen Rat, Beistand und Trost brauchen? Was nützt ihnen da ein toter Seelenhirte? Ich werde als Lebender von den Lebenden gebraucht. Nebenbei: Auch dir, als Laien, hätte dein Vater in diesem Notfall seine Sünden bekennen können, ganz gemäß Apostel Jakobus:
Bekennet einander eure Sünden
.»
«Dann gewährt ihm jetzt die Absolution.» Benedikt stellte sich vor die Zimmertür, gleichsam als ob er verhindern wollte, dass Pfarrer Cunrat sich davonmachte. «Ich weiß, dass das auch ohne Beichte möglich ist. So wie bei den Menschen, die im Krieg oder bei Unfällen zu Tode kommen.»
«Das ist richtig.» Die Miene des Pfarrers wechselte zwischen Erstaunen und Verärgerung. «Es erfordert freilich von Seiten des Priesters höchste geistliche Anstrengung, im Nachhinein Gott zu versöhnen und den Schuldigen zu erlösen. Und von Seiten der Angehörigen demütiges Gebet und flehentliche Fürbitte an die Heiligen.»
Benedikt nickte nur und kniete vor dem Leichnam nieder. Clara tat es ihm nach. Nach langer Zeit endlich hörten sie die Worte der Lossprechung
Ego te absolvo a peccatis tuis. In nomine Patris et Filii et Spiritus Sancti
und sprachen gemeinsam das Amen.
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