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Der Pestengel von Freiburg

Der Pestengel von Freiburg

Titel: Der Pestengel von Freiburg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Astrid Fritz
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ihrem Feld stammte, untersagte sich indessen jedes Nachfragen.
    Nein, Clara war ihrem Sohn dankbar dafür, dass sie und die Kinder oben auf dem Wald nicht darben mussten, denn für ihre Krankendienste erhielt sie immer seltener eine Entlohnung. Ohnehin drohten jetzt, im vierten Monat des Großen Sterbens, Handel und Wirtschaft vollends aus dem Ruder zu laufen. Immer mehr Werkstätten blieben geschlossen, immer mehr Marktlauben leer. Ganze Dörfer waren im Breisgau schon verödet, auf den Feldern blieben die Früchte liegen, und was nicht gestohlen wurde, fiel dem herrenlosen Vieh zum Fraß. Brot und Wein hatten sich inzwischen maßlos verteuert, Eier und Milch gab es überhaupt nicht mehr zu kaufen.
    Dafür kam es jetzt so gut wie jede Nacht zu Plünderungen. In allen Gassen Freiburgs fanden sich aufgegebene Weinkeller, Scheunen und Wohnhäuser, deren Türen und Tore offen standen und deren Inneres leer geräumt war von Diebesgesindel, das weder Mitgefühl noch Respekt vor fremdem Eigentum besaß. Was nicht niet- und nagelfest war, wurde weggeschafft, wer sich in den Weg stellte, niedergeknüppelt. Selbst Dielenbretter, Fensterrahmen und Türblätter waren herausgerissen, und dies, obwohl neuerdings mehr Nachtwächter und Büttel ihre Runden drehten als je zuvor. Manchmal fragte sich Clara, ob nicht die Hüter der Gesetze selbst des Nachts zum Gesetzesbrecher wurden, und war heilfroh, als Benedikt Schloss und Riegel an ihrem Hoftor anbrachte. Ganz zu Anfang waren Vergehen wie Plünderung noch hart bestraft worden, mit Staupenschlag und Stadtverweis oder gar mit dem Tod am Galgen draußen an der Landstraße nach Basel. Inzwischen aber hatte Clara den Eindruck, dass jedermann tun und lassen konnte, was er wollte. Die Ratsherren jedenfalls, die in ihren eigenen Reihen längst zahlreiche Tote zu beklagen hatten, kümmerte dieses Treiben immer weniger.
    Überhaupt schien die Menschheit sich zu scheiden in Wölfe und Lämmer, wobei schon anderntags der Wolf zum Opfer, das Lamm zum Wolf werden konnte. Die einen verloren alles, die anderen schlugen Gewinn aus dem Leid ihrer Nachbarn. Wer heute reich geworden war, verschleuderte morgen sein Vermögen, wer heute arm war, wurde morgen zum Verbrecher. In einigen Städten, so hatte Clara gehört, ließen sich die wenigen verbliebenen Priester, Ärzte und Wundärzte ihre Dienste schandbar teuer bezahlen und lebten wie die Fürsten. Sie selbst hingegen hatte schon lange keinen Silberpfennig mehr in der Hand gehalten.
    Mit Benedikt war sie darüber gleich am Tag seines Einzugs in Streit geraten.
    «Du und Mechthild, ihr lasst euch ausnehmen wie die Weihnachtsgänse», hatte er geschimpft. «Ihr setzt Leib und Leben aufs Spiel und seht so gut wie keinen Lohn dafür. Das wenige, was ihr einnehmt, tragt ihr zu Meister Christoffel in die Apotheke, der Tag für Tag mehr verlangt für seine Mittelchen.»
    «Und was sollen wir deiner Ansicht nach tun?», entgegnete sie.
    «Euch nehmen, was euch zusteht. Hier einen Zinnteller, dort ein gutes Leintuch – was weiß ich? Selbst der Totengräber ist schlauer als du. Schau dir doch bloß sein teures Gewand und die vornehmen Schuhe an.»
    «Wie kannst du so etwas nur denken?», hatte sie sich empört. «Steht nicht geschrieben:
Du sollst nicht stehlen
? Steht nicht geschrieben:
Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus

    Drei Tage später brachte Benedikt sie noch weitaus mehr aus der Fassung. Mechthild war zum Nachtmahl vorbeigekommen, und nachdem die beiden Frauen eine Weile auf den Jungen gewartet hatten, hatten sie zu essen begonnen. Clara war guter Dinge. Der jüngste Sohn von Stadtschreiber Heinerli, der im Haus gegenüber wohnte, hatte das Aufbrechen der Beulen gut überstanden und war auf dem Wege der Genesung.
    «Ist dir aufgefallen», fragte Clara Mechthild, «dass es bei den Gerbern unten in der Au noch keinen einzigen Seuchenfall gab?»
    Ihre Freundin zuckte die Schultern.
    «Ich meine», fuhr Clara fort, «mit Reinlichkeit und gesunder Lebensweise wie bei den Hebräern kann es nichts zu tun haben. Es muss vielmehr gerade an dem Gestank dort liegen und an den Gerbstoffen. Ähnlich wie scharfer Essig oder starkes Räucherwerkscheint dies die giftigen Miasmen zu neutralisieren. – Hörst du mir überhaupt zu?»
    Mechthild fuhr zusammen. «Doch, ja.»
    Plötzlich füllten sich ihre Augen mit Tränen.
    «Ach herrje!» Clara sprang von ihrem Schemel auf und setzte sich neben Mechthild auf die Bank. «Was ist mit dir? Heut Mittag

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